Die Entscheidungsgründe des BAG zur Zeiterfassungspflicht liegen vor – was folgt hieraus für die Praxis?

Köln, 05.12.2022

Newsletter Arbeitsrecht Q4Seit Verkündung der Entscheidung zur Zeiterfassungspflicht im Arbeitsverhältnis am 13. September 2022 (1 ABR 22/21) wurde die Begründung des Bundesarbeitsgerichts erwartet. Nun liegt sie vor.

In dem Beschlussverfahren hatte der antragstellende Betriebsrat auf Grundlage von § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG ein Initiativrecht zur Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems geltend gemacht. Das Bundesarbeitsgericht hat ein solches Initiativrecht des Betriebsrats abgelehnt, weil ohnehin eine gesetzliche Verpflichtung des Arbeitgebers bestehe, die gesamte Arbeitszeit der Arbeitnehmer zu erfassen. Diese Verpflichtung ergebe sich aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG, wonach der Arbeitgeber eine „geeignete Organisation“ für den Gesundheitsschutz schaffen müsse. Eine Erfassung der Arbeitszeit gehöre dazu. 

Die Entscheidungsgründe lassen erkennen, dass erheblicher Begründungsaufwand erforderlich war, um aus der - bislang eher stiefmütterlich behandelten - Vorschrift des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG im Wege einer europarechtskonformen Auslegung eine bestehende gesetzliche Verpflichtung von Arbeitgebern zur Erfassung der gesamten Arbeitszeit ihrer Arbeitnehmer abzuleiten. Im Wesentlichen stützt sich das Bundesarbeitsgericht dabei auf die Bestimmungen der europäischen Arbeitszeitrichtlinie (2003/88/EG).

Kernaussagen der Entscheidung

Ob man die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts im Ergebnis für richtig oder falsch hält, ist für die Praxis unerheblich. Jedenfalls sind Arbeitgeber gehalten, die Vorgaben des Bundesarbeitsgerichts in die Tat umzusetzen.

Dabei lassen sich der Entscheidung insbesondere folgende für die Praxis zentrale Aussagen entnehmen:

  • Eine Erfassung und Dokumentation von Beginn, Ende und Lage der Arbeitszeit ist ohne Übergangsvorschrift nach geltendem Recht schon jetzt zwingend. Nur geleistete Überstunden zu erfassen, genügt ausdrücklich nicht mehr.
  • In den Entscheidungsgründen findet sich keine klare Aussage dazu, ob und wie Pausenzeiten zu erfassen sind. Das Bundesarbeitsgericht stellt aber ausdrücklich darauf ab, dass eine Überprüfung der täglichen und wöchentlichen Höchstarbeitszeiten möglich sein soll. Dies wird ohne Berücksichtigung von Pausenzeiten nicht möglich sein. Es ist deshalb davon auszugehen, dass diese ebenfalls der Erfassungspflicht unterliegen. Dafür spricht auch, dass „Beginn und Ende der Arbeitszeit“ dahingehend zu verstehen sein dürften, dass durch eine Pause die Arbeitszeit endet und sie im Anschluss erneut beginnt. Nach diesem Verständnis sind die Pausenzeiten vollständig zu erfassen.
  • Dazu, ob sich die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung auch auf leitende Angestellte erstreckt, hat sich das Bundesarbeitsgericht nicht eindeutig geäußert. Es führt aus, dass der Gesetzgeber Sonderregelungen und Ausnahmen für bestimmte Arbeitnehmergruppen zwar treffen könne, dies aber „bislang“ nicht getan habe. Solange dies so sei, gelte die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung für alle Arbeitnehmer. Die gesetzlichen Ausnahmetatbestände des Arbeitszeitgesetzes, wonach u.a. leitende Angestellte ausgenommen sind, hält das Bundesarbeitsgericht ausdrücklich nicht für einschlägig. Wer alle Vorgaben sicher erfüllen möchte, sollte deshalb davon ausgehen, dass auch die Arbeitszeiten der leitenden Angestellten zu erfassen sind. Dies gilt allerdings nur, solange keine abweichende gesetzliche (oder ggf. tarifliche oder betriebliche) Regelung gilt (dazu s.u. im vorletzten Bullet-Point).
  • Die Art und Weise der Zeiterfassung kann der Arbeitgeber wählen. Dies kann sowohl elektronisch als auch in Papierform erfolgen. Auch hier bleibt abzuwarten, ob der Gesetzgeber dazu nähere Vorgaben machen wird. Die Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems ist daher (jedenfalls noch) nicht zwingend.
  • Der Arbeitgeber kann auch entscheiden, wer die Arbeitszeit erfasst. Er kann diese Aufgabe auf die Arbeitnehmer übertragen. Dazu ist eine entsprechende Weisung erforderlich, durch welche die Arbeitnehmer zur Erfassung ihrer Arbeitszeit verpflichtet werden. In diesem Fall verbleibt der Arbeitgeber dazu verpflichtet, zu kontrollieren und zu überwachen, dass eine ordnungsgemäße Erfassung tatsächlich erfolgt.
  • Vertrauensarbeitszeit“ ist weiterhin möglich. Allerdings müssen die in diesem Rahmen geleisteten Arbeitszeiten erfasst werden. Ein Verzicht auf die Erfassung der Arbeitszeit ist ausgeschlossen.
  • Besteht ein Betriebsrat, so ist dieser gemäß § 87 BetrVG bei der Ausgestaltung („wie“) der Zeiterfassung zu beteiligen. Der Betriebsrat kann aber keine Regelung zur Zeiterfassung einfordern, da es – so das Bundesarbeitsgericht – keinen Regelungsspielraum für das „Ob“ einer Zeiterfassung gibt.
  • Das Bundesarbeitsgericht stellt klar, dass Ausnahmen von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung im Rahmen der von der Arbeitszeitrichtlinie eröffneten Gestaltungsspielräume möglich sind. Die Arbeitszeitrichtlinie erlaubt es in ihrem Art. 17 jedenfalls dem nationalen Gesetzgeber, abweichende Regelungen zu treffen, d.h. u.a. bestimmte Arbeitnehmergruppen von der Zeiterfassung auszunehmen. Das Bundesarbeitsgericht trifft aber (leider) keine Aussage dazu, ob derartige Ausnahmeregelungen auch von Tarif- oder Betriebsparteien getroffen werden können. Dies ist also noch ungeklärt. Aus unserer Sicht ließen sich in geeigneten Fällen hierfür aber angesichts der Spielräume, die § 3 ArbSchG und auch die Arbeitszeitrichtlinie bieten, durchaus gute Gründe finden.
  • Es bleibt zunächst dabei, dass bei einem Verstoß gegen die Aufzeichnungs- und Dokumentationspflicht keine unmittelbaren Geldbußen drohen. Die aus § 3 ArbSchG dem Arbeitgeber obliegenden Pflichten sind erst dann bußgeldbewehrt, wenn die zuständige Behörde dem Arbeitgeber die Pflicht in einer vollziehbaren Anordnung konkret aufgegeben hat.

Fazit

Das Bundesarbeitsgericht stellt klar, dass es dem Gesetzgeber unverändert obliegt, rechtssichere Regelungen insbesondere hinsichtlich des Anwendungsbereichs (sind auch leitende Angestellte erfasst?) und etwaiger Vorgaben zur konkreten Ausgestaltung (elektronisch oder analog?) der Zeiterfassung zu schaffen.

Ungeachtet dessen besteht bereits jetzt die Rechtspflicht für Arbeitgeber, für die Ein- und Durchführung eines entsprechenden Zeiterfassungssystems zu sorgen. Misslich ist dabei, dass ein nun implementiertes System zur Zeiterfassung nach dem Tätigwerden des Gesetzgebers ggf. nochmals angepasst werden muss.

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