Das Arbeitsrecht in der evangelischen und katholischen Kirche ist eine spezielle Materie mit einigen Besonderheiten gegenüber säkularen Arbeitsverhältnissen. Diese sollte der arbeitsrechtliche Berater kennen, denn die Kirchen gehören, mit all ihren Untergliederungen (Caritas, Diakonie etc.), zu den größten Arbeitgebern des Landes. Wegen dieser Besonderheiten spricht man auch vom Arbeitsrecht des „Dritten Weges“. Während nicht-kirchliche Arbeitgeber ihre Rechtsbeziehungen nur durch die beiden bekannten Wege regeln können, nämlich durch den individuellen Arbeitsvertrag einerseits und kollektiv geltende Tarifverträge andererseits, greifen kirchliche Dienstgeber auf speziell kirchenrechtliche Bestimmungen zurück. Zu nennen sind beispielsweise die Richtlinien für Arbeitsverträge in den Einrichtungen des Deutschen Caritasverbandes (AVR).
Die Kirchen haben in Deutschland eine verfassungsrechtlich geschützte Position. Am 5. Oktober 2023 gab es beim Bundesarbeitsgericht in Erfurt sozusagen den „Tag des Kirchenrechts“. Der 6. Senat hat in gleich zwei bedeutenden Entscheidungen das Verhältnis kirchlicher Arbeitsvertragsrichtlinien zum staatlichen Recht determiniert.
Die Entscheidungen
Das BAG hatte sich mit den AVR der Caritas und der Diakonie zu beschäftigen. Die Sachverhalte als solche sind einzelfall-spezifisch und daher an dieser Stelle nicht weiter von Interesse, sodass hier nur grob der Inhalt umrissen werden soll. Bedeutungsvoller sind die allgemeinen und über den Fall hinausgehenden Ausführungen zur Rechtsnatur der AVR.
1. Im ersten Urteil (6 AZR 308/22) ging es um die Eingruppierung einer Arbeitnehmerin in das Vergütungsschema der AVR (Diakonie). Die Parteien stritten sich über bestimmte Vorschriften zur Berücksichtigung erlangter Berufserfahrung. Die Klägerin meinte, sie werde durch die AVR unbillig benachteiligt.
Das BAG gab dem Dienstgeber Recht. Die Klägerin werde, so das BAG, nicht durch die Vorgaben der AVR benachteiligt. Der Arbeitsvertrag nehme wirksam auf die AVR Bezug. Da die AVR nicht mit einer Gewerkschaft vereinbart worden seien, handele es sich dem Wesen nach um allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB). Solche AGB unterliegen üblicherweise einer strengen Inhaltskontrolle nach §§ 305 ff. BGB. Dieser Prüfungsmaßstab sei aber auf kirchliche Arbeitsvertragsrichtlinien nicht anzuwenden. Denn inhaltlich sei die Mitwirkung der Arbeitnehmerschaft an deren Zustandekommen gewährleistet, da paritätisch besetzte Kommissionen den Inhalt aushandeln. Aufgrund des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts sei auch für das Arbeitsrecht des Dritten Weges der für Tarifverträge geltende – weniger strenge - Prüfungsmaßstab anzuwenden. Die AVR sind danach nur auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem zwingendem Recht und den guten Sitten zu überprüfen.
2. Im zweiten Fall (6 AZR 210/22) ging es um die Berechnung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach den AVR der Caritas. Konkret forderte der Kläger eine Gutschrift auf dem Arbeitszeitkonto für krankheitsbedingt nicht geleistete, aber im Dienstplan verzeichnete Bereitschaftsdienste. Da das Gesetz (§ 4 Abs. 1 EFZG) das Entgeltausfallprinzip normiert, forderte der Kläger eine entsprechende Vergütung für die ausgefallenen Bereitschaftsdienste (konkret zu 90%). Der katholische Dienstgeber zahlte indes nur eine geringere Pauschale nach Anlage 14 der AVR.
Das BAG gab dem Kläger Recht. Zur Begründung führte es aus, dass die Berechnung der Entgeltfortzahlung zwingendes Recht sei. Eine Abweichung sei gemäß § 4 Abs. 4 EFZG nur durch Tarifverträge möglich. Die AVR der Caritas seien aber keine Tarifverträge im Sinne des Gesetzes. Der Gesetzgeber habe im EFZG keine Ausnahmen normiert für kirchliche Arbeitsvertragsrichtlinien. Daher sei im konkreten Fall zu prüfen, ob die gesetzliche Regelung (Lohnausfallprinzip, § 4 Abs. 1 EFZG) im Einzelfall günstiger ist als die AVR. Diese dürften dann insoweit nicht angewandt werden.
Praxishinweise
An sich sind die Entscheidungen nicht überraschend. Dennoch ist erfreulich, dass das BAG die Gelegenheit genutzt hat, noch einmal anschaulich die Rechtsnatur kirchlicher Arbeitsvertragsrichtlinien zu bestimmen. Folgende Grundsätze sollte man sich vergegenwärtigen:
- Kirchliche Arbeitsvertragsrichtlinien sind keine Tarifverträge. Dennoch gelten die für Tarifverträge geltenden Auslegungsgrundsätze. Eine strenge Inhaltskontrolle findet nicht statt.
- Öffnungsklauseln für Tarifverträge in staatlichen Gesetzen gelten nicht automatisch für kirchliche Regelungen.
Für die Praxis bedeutsam ist insbesondere die Entscheidung zu gesetzlichen Öffnungsklauseln. Bislang hat die HR-Praxis Öffnungsklauseln für Tarifverträge analog auch auf kirchliche Arbeitsvertragsrichtlinien angewandt. Das wird so in Zukunft nicht (immer) möglich sein. Wenn der Gesetzgeber Abweichungen von zwingendem Gesetzesrecht zulassen möchte, muss er dies auch ausdrücklich für kirchliche Regelungen normieren. Im EFZG ist dies – wie gezeigt – nicht geschehen. Anders ist dies beispielsweise im Nachweisgesetz oder im Arbeitszeitgesetz (§ 7 Abs. 4 ArbZG). Im Bereich der Entgeltfortzahlung wird sich die Praxis auf eine Günstigkeitsprüfung einstellen müssen. Im Zweifel wird zu prüfen sein, ob möglicherweise die gesetzliche Regelung für einen erkrankten Arbeitnehmer günstiger ist als die Berechnungsvorschriften in den AVR. Handlungsbedarf gibt es sicherlich auch für die arbeitsrechtlichen Kommissionen im Zuge einer Novellierung der AVR.