Schwerbehinderte Arbeitnehmer haben schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Vor diesem Hintergrund macht es der Gesetzgeber Arbeitgebern schwer, das Arbeitsverhältnis mit schwerbehinderten Mitarbeitern wieder zu beenden. Das Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) enthält nicht nur spezifische Fristen, sondern weitere Pflichten des Arbeitgebers. In einem neuen Urteil weist das Bundesarbeitsgericht (BAG) der betrieblichen Praxis erfreulich klar den Weg durch den Dschungel des SGB IX (Urteil vom 11.6.2020, 2 AZR 442/19).
Entscheidung/Sachverhalt
Im Mittelpunkt der Entscheidung steht ein schwerbehinderter Arbeitnehmer, der statt des erhofften „Geldsegens“ eine fristlose Kündigung erhalten hat.
Der klagende Arbeitnehmer arbeitete als Hausmeister und verfügte über ein portables Festnetztelefon. Ende Februar 2018 bemerkte der Arbeitgeber, dass über das Telefon 2.756-mal (!) eine kostenpflichtige Glücksspiel-Hotline gewählt worden war. Es bestand nach Auswertung der Zeiten und Verbindungen der dringende Verdacht des Telefonmissbrauchs. Eine Anhörung zu dem Verdacht erfolgte aber zunächst nicht, da der Kläger zwei Wochen erkrankt war. Erst nach der Erkrankung erfolgte am 13. und 14. März 2018 eine Anhörung. Danach beantragte der Arbeitgeber am 16. März 2018 beim Integrationsamt die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung. Das Amt ließ die gesetzliche Zwei-Wochen-Frist verstreichen (§ 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX) und bestätigte dies am 4. April 2018 schriftlich. Noch am selben Tag sind sowohl Betriebsrat als auch Schwerbehindertenvertretung zur Kündigung angehört worden. Nach deren Rückmeldung erfolgte schließlich am 10. April 2018 die außerordentliche fristlose Kündigung.
Das LAG Düsseldorf (Vorinstanz) gab dem Kläger zunächst recht. Das Integrationsamt sei zu spät, d. h. nicht innerhalb der Zwei-Wochen-Frist (§ 174 Abs. 2 SGB IX) angehört worden. Trotz der Erkrankung hätte der Arbeitgeber zur Anhörung einladen müssen. Außerdem sei die Kündigung nach Beteiligung des Amtes nicht „unverzüglich“ (§ 174 Abs. 5 SGB IX) ausgesprochen worden.
Das BAG hat die praxisferne Entscheidung des LAG mit klaren Worten aufgehoben: Danach sei es von Arbeitsgerichten nicht zu prüfen, ob die Zwei-Wochen-Frist zur Beteiligung des Integrationsamtes (§ 174 Abs. 2 SGB IX) eingehalten worden ist. Diese Frist sei allein von der Behörde zu prüfen. Das Arbeitsgericht sei insoweit an die autonome behördliche Entscheidung gebunden. Im arbeitsgerichtlichen Prozess sei nur zu prüfen, ob die Kündigung „unverzüglich“ nach der Entscheidung des Integrationsamtes ausgesprochen worden ist (§ 174 Abs. 5 SGB IX). In diesem Kontext hat das BAG – ebenfalls erfreulich – ausgeführt, dass es immer noch ausreichend ist, erst nach der behördlichen Zustimmung sowohl Betriebsrat als auch Schwerbehindertenvertretung zu beteiligen (§ 102 BetrVG und § 178 Abs. 2 SGB IX). Außerdem hat das BAG klargestellt, dass ein Arbeitgeber im Vorfeld einer Verdachtskündigung nicht verpflichtet ist, während einer Erkrankung den Arbeitnehmer zum Tatvorwurf anzuhören. Die Genesung sei regelmäßig abzuwarten.
Praxisrelevanz
Das Urteil des BAG ist in doppelter Hinsicht erfreulich, da es allen Beteiligten Rechtssicherheit gibt.
– Verdachtskündigung: Das Institut der Verdachtskündigung ist schon lange anerkannt. Eine (außerordentliche) Kündigung kann auch auf den dringenden Verdacht eines Fehlverhaltens gestützt werden. Der allerletzte Beweis ist nicht erforderlich. Wichtig ist, dass der Arbeitnehmer zu den Vorwürfen angehört wird. Erst danach beginnt die Zwei-Wochen-Frist (§ 626 Abs. 2 BGB, § 174 Abs. 2 SGB IX). Während einer vorübergehenden Erkrankung (zwei bis drei Wochen) muss ein Arbeitnehmer aber nicht zum Anhörungsgespräch geladen werden. Der Arbeitgeber kann warten, bis der Arbeitnehmer wieder genesen ist. Die Entscheidung des LAG Düsseldorf hatte zwischenzeitlich dazu geführt, dass Arbeitnehmer sogar während der Erkrankung mit Anhörungsgesprächen „behelligt“ wurden. Insofern ist die Entscheidung auch aus Arbeitnehmerperspektive zu begrüßen.
– Beteiligung des Integrationsamtes: § 174 SGB IX enthält zwei Fristen, die der Arbeitgeber einhalten muss. Zum einen muss binnen zwei Wochen nach Kenntnis von den kündigungsrelevanten Tatsachen das Integrationsamt zur Kündigung angehört werden. Inhaltlich entspricht diese Frist § 626 Abs. 2 BGB – der entscheidende Unterschied ist aber, dass die Arbeitsgerichte die Einhaltung der Frist nicht prüfen dürfen. Das ist rechtsstaatlich allein Sache der Integrationsämter bzw. Verwaltungsgerichte. Im Kündigungsschutzprozess ist dies für den Arbeitgeber eine enorme Erleichterung, da ein gravierender Risikofaktor wegfällt.
Arbeitsgerichtlich zu prüfen ist nur, ob nach der Zustimmung des Integrationsamtes zur Kündigung diese auch tatsächlich „unverzüglich“ ausgesprochen worden ist. Auch hier bedarf es keiner unzumutbaren Eile. Es ist ausreichend, erst zu diesem Zeitpunkt die Schwerbehindertenvertretung und den Betriebsrat zu beteiligen.
Aus guten Gründen hat der Gesetzgeber die Kündigung schwerbehinderter Menschen erschwert. Dies darf aber nicht dazu führen, dass eine Kündigung gleichsam unmöglich gemacht wird. Zu Recht hat das BAG – bei allen Formalitäten – klargestellt, dass ein Arbeitgeber nicht in panischen Aktionismus verfallen muss. Das Gesetz enthält keine Reihenfolge zur Beteiligung der verschiedenen Gremien. Dennoch sei, um alle Zweifel zu beseitigen, empfohlen, Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung nicht erst nach der Entscheidung des Integrationsamtes zu beteiligen. Im Sinne einer Beschleunigung empfiehlt es sich, alle drei Institutionen mehr oder weniger zeitgleich anzuhören. Anwaltliche Beratung ist angesichts der komplizierten Rechtslage anzuraten.
Dass Arbeitnehmer während einer Erkrankung nicht zu einem Kündigungsvorwurf angehört werden müssen, ist – gleichgültig welche Seite man vertritt – ebenfalls der Sache dienlich.