Mit viel Aufsehen hatte der Gesetzgeber Anfang 2020 aufgrund der COVID-19-Pandemie die Möglichkeit geschaffen – temporär – virtuelle Hauptversammlungen abzuhalten, d.h. eine Hauptversammlung ohne physische Präsenz der Aktionäre (s. hierzu bereits unsere Legal Updates vom 27.03.2020 und 29.01.2021). Diese Möglichkeit war zunächst auf die Hauptversammlungssaison 2020 (allerdings bis einschl. 31.12.2020) begrenzt und wurde im Rahmen der anhaltenden COVID-19-Pandemie im Dezember 2020 auf das gesamte Kalenderjahr 2021 erweitert.
Nunmehr wurde noch kurz vor der Bundestagswahl des 20. Deutschen Bundestages durch Art. 15 des Aufbauhilfegesetzes 2021 (BGBl 2021, S. 4147, 4153) die grundsätzliche Möglichkeit zur Abhaltung virtueller Hauptversammlungen bis zum 31.08.2022 verlängert.
Gesetzesänderung
Gut versteckt zwischen Regelungen zur Bekämpfung der Folgen der Unwetterkatastrophen dieses Sommers und mit der gebotene Kürze wurde durch das Aufbauhilfegesetz 2021 die zuletzt gültige Fassung von § 7 des Gesetzes über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentums-recht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie (GesRuaCOVBekG) u.a. dergestalt angepasst, dass in den Absätzen 1 und 3 jeweils der Passus „im Jahr 2020 und im Jahr 2021“ durch „bis einschließlich 31. August 2022“ ersetzt worden ist.
Materiell-rechtliche Veränderungen sind nicht erfolgt.
Sinn und Zweck der Änderungen
Der Gesetzgeber hat mit der Erweiterung der Möglichkeit zur Abhaltung virtueller Hauptversammlungen auch für die kommende Hauptversammlungssaison 2022 insbesondere auf den Druck aus der Praxis und die weiterhin bestehenden Unsicherheiten hinsichtlich der COVID-19-Pandemie eingelenkt. Es ist für die Praxis zu begrüßen, dass nunmehr klar ist, dass auch 2022 im Grundsatz weiterhin die Möglichkeit einer virtuellen Hauptversammlung besteht. Mit Blick auf die klare Gesetzesbegründung dürfte die Verlängerung allerdings kein Persilschein zur Abhaltung einer virtuellen Hauptversammlung sein (s. unten).
Die Verlängerung jedenfalls bis zum 31.08.2022 erscheint mit Blick auf § 175 Abs. 1 Satz 2 AktG zunächst konsequent. Allerdings ist zu beachten, dass § 1 Abs. 5 GesRuaCOVBekG weiterhin gilt, wonach der Vorstand entscheiden kann, dass die Gesellschaft abweichend von § 175 Abs. 1 Satz 2 AktG auch innerhalb des Geschäftsjahres (also innerhalb von zwölf statt acht Monaten) die Hauptversammlung abhalten kann. Auch wenn die Hauptversammlung damit grundsätzlich auch zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden kann, besteht die Möglichkeit zur Durchführung einer virtuellen Hauptversammlung – inkonsequenterweise (?) – gleichwohl nur bis einschließlich August 2022.
Hat die Gesellschaft ein vom Kalenderjahr abweichendes Geschäftsjahr, welches im Frühjahr bis Sommer 2022 endet, so gilt es genau zu eruieren, inwieweit eine virtuelle Hauptversammlung abgehalten werden kann oder eine herkömmlichen Präsenz-Hauptversammlung geplant werden sollte.
Überblick zu den geltenden Regelungen
Gemäß § 1 Abs. 1 und 2 GesRuaCOVBekG kann der Vorstand – weiterhin – ohne Satzungs- oder Geschäftsordnungsermächtigung über die Teilnahme an der Hauptversammlung über elektronische Kommunikation, die Möglichkeit der Briefwahl und der Bild- und Tonübertragung entscheiden. Er kann ebenfalls festsetzen, dass die Hauptversammlung ganz ohne physische Präsenz stattfindet, sofern (i) sie übertragen wird, (ii) die elektronische Stimmabgabe gesichert, (iii) ein Fragerecht eingeräumt und (iv) die Möglichkeit zum Widerspruch zur Niederschrift eröffnet ist.
Außerdem bleibt die Möglichkeit, die Frist zur Einberufung der Hauptversammlung von 30 Tagen (§ 123 Abs. 1 Satz 1 AktG) auf 21 Tage zu verkürzen. Entsprechendes gilt für den Nachweis des Anteilsbesitzes bei börsennotierten Gesellschaften, welcher sich dann nicht auf den 21. Tag, sondern auf den 12. Tag vor der Versammlung beziehen muss (§ 1 Abs. 3 Satz 2 GesRuaCOVBekG).
Weiterhin müssen Ergänzungsverlangen zur Tagesordnung – im Fall der verkürzten Einberufungsfrist – spätestens 14 Tage vor der Versammlung zugehen (§ 1 Abs. 3 Satz 4 GesRuaCOVBekG).
Der Vorstand entscheidet weiterhin „nach pflichtgemäßem, freiem Ermessen, wie er Fragen beantwortet“; die Frage des „Ob“ ist nur an § 131 AktG zu messen. Auch kann er vorgeben, dass Fragen bis spätestens einen Tag vor der Versammlung einzureichen sind. Mit Blick auf die nach wie vor nicht abschließend geklärte Frage der Fristberechnung, sollte vorsorglich die aktionärsfreundlichste Auslegung gewählt werden (Bsp.: HV am 30. Juni 2022; Fragerecht bis 28. Juni 2022, 24:00 Uhr).
Der Vorstand bedarf der Zustimmung des Aufsichtsrates, um von den Erleichterungen des GesRuaCOVBekG Gebrauch zu machen.
Ermessenentscheidung zur Durchführung einer virtuellen Hauptversammlung
Der Gesetzgeber erachtet die virtuelle Hauptversammlung weiterhin als Ausnahmefall und spricht davon, dass die Verlängerung bis zum 31. August 2022 „[a]ngesichts der ungewissen Fortentwicklung der Pandemie-Situation […] vorsorglich“ erfolge und „von diesem Instrument im Einzelfall nur dann Gebrauch gemacht werden [soll], wenn dies unter Berücksichtigung des konkreten Pandemiegeschehens und im Hinblick auf die Teilnehmerzahl der jeweiligen Versammlung erforderlich erscheint“ (vgl. BT-Drs. 19/32275, S. 30).
Wenn sich also im Jahr 2022 (hoffentlich und absehbar) die Pandemie-Situation aufgrund von Impfungen und allgemein rückläufiger Fallzahlen erheblich verbessert, darf der Vorstand sich nicht ohne Weiteres dazu entscheiden, eine virtuelle Hauptversammlung durchzuführen. Im Rahmen seiner Ermessenentscheidung hat der Vorstand eine entsprechende Abwägung und Prognose (aus ex ante-Sicht) anzustellen. Zugestehen wird man dem Vorstand, dass der Zeitpunkt für die Entscheidung (jedenfalls bei größeren AGs) nicht erst derjenige der Einberufung, sondern der Zeitpunkt der konkreten Planung/Vorbereitung der Hauptversammlung sein dürfte.
In diesem Zusammenhang ist auch weiterhin das eingeschränkte Anfechtungsrecht gefasster Beschlüsse nach § 1 Abs. 7 GesRuaCOVBekG von Bedeutung.
Sofern der Vorstand bei seiner Entscheidung also nicht offensichtlich rechtsmissbräuchlich handelt, dürfte das Risiko einer Anfechtbarkeit aufgrund einer vermeintlich pflichtwidrig einberufenen virtuellen Hauptversammlung gering sein. Die Entscheidung des Vorstandes und die Zustimmung des Aufsichtsrates sind unternehmerische Entscheidungen, denn sie haben – wie das Pandemie-
Geschehen gezeigt hat – einen von Unsicherheiten geprägten Zukunftsbezug. So wird man den Organen wohl einen großen Ermessensspielraum zugestehen müssen.
In jedem Fall ist zu empfehlen, dass die Grundlage der Entscheidung zur Durchführung einer virtuellen Hauptversammlung ausreichend dokumentiert wird.
Geltung für andere Rechtsformen
Die Verlängerung gilt auch für die SE, die KGaA und (mit Einschränkungen) den Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit, § 1 Abs. 8 und 9 GesRuaCOVBekG (vgl. bereits unsere Legal Updates vom 27.03.2020 und 29.01.2021).
Fazit
Die Verlängerung zur Durchführung virtueller Hauptversammlungen bis zum 31.08.2022 ist grundsätzlich zu begrüßen. Inwieweit hiervon tatsächlich Gebrauch gemacht wird bzw. werden kann, wird die Entwicklung der Pandemielage in den kommenden Monaten zeigen. Es ist aber davon auszugehen, dass die Hauptversammlungen gerade größerer Gesellschaften, die erheblichen Planungsvorlauf benötigen, auch 2022 größtenteils virtuell stattfinden werden.
Die Entscheidung dafür oder dagegen sollte im Einzelfall aber sorgfältig geprüft und dokumentiert werden.
Zu begrüßen wäre es, wenn die neue Bundesregierung aufgrund der – jedenfalls nach Wahrnehmung der Autoren – allgemein guten Erfahrungen mit den virtuellen Hauptversammlungen der abgelaufenen zwei Hauptversammlungssaisons, die dauerhafte Möglichkeit der virtuellen Hauptversammlung einführt.