Insolvenzanfechtung ist Gläubigerschutz durch Massemehrung. Der Insolvenzverwalter wird durch die Regelungen der Insolvenzanfechtung berechtigt aber gleichzeitig auch (haftungsbewehrt) verpflichtet, vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommene Schmälerungen der Insolvenzmasse wieder zu korrigieren.
Mit Urteil vom 27. Juli 2023 (IX ZR 138/21) konkretisiert der BGH nunmehr vor dem Hintergrund der Regelungen über die Anspruchsverjährung die (haftungsträchtigen) Grenzen der grob fahrlässigen Unkenntnis des Insolvenzverwalters von Anfechtungsansprüchen.
In seinen Leitsätzen hält der BGH hierzu fest:
- Der Insolvenzverwalter hat die ihm bekannten Konten der Hausbank des Schuldners innerhalb eines angemessenen Zeitraums darauf zu überprüfen, ob ihm die Kontounterlagen vollständig vorliegen und die Kontounterlagen Anhaltspunkte für anfechtungsrelevante Vorgänge enthalten.
- Grob fahrlässige Unkenntnis von den tatsächlichen Voraussetzungen eines Insolvenzanfechtungsanspruchs setzt voraus, dass der Insolvenzverwalter seine Ermittlungspflichten in besonders schwerer, auch subjektiv vorwerfbarer Weise vernachlässigt hat.
- Hinsichtlich eines in den Drei-Monats-Zeitraums der Deckungsanfechtung fallenden Anfechtungstatbestandes liegt regelmäßig grob fahrlässige Unkenntnis vor, wenn der Insolvenzverwalter die Überprüfung der ihm bekannten von der Hausbank des Schuldners geführten Konten für mehr als drei Jahre ab Eröffnung des Insolvenzverfahrens unterlässt und sich ihm aufgrund der aus den Kontounterlagen erkennbaren Zahlungsvorgänge und der ihm bekannten sonstigen Tatsachen weitere Ermittlungen hätten aufdrängen müssen.
Was war geschehen?
Der Insolvenzverwalter machte gegenüber der Hausbank der Schuldnerin Anfechtungsansprüche aus der Verrechnung eines gewährten Darlehens mit der Schuldnerin durch das Finanzamt gewährten Investitionszulagen (rd. EUR 500T) geltend.
Die Beklagte hatte der Schuldnerin vor Insolvenzantragstellung ein Darlehen u.a. zur Vorfinanzierung der schließlich von der Schuldnerin beantragten und erhaltenen Investitionszulage gewährt. Vereinbarungsgemäß verrechnete die Beklagte diese daraufhin mit dem zum 31. Dezember 2008 offenen Saldo.
Einen Monat später stellte die Schuldnerin Insolvenzantrag woraufhin am 20. März 2009 das Insolvenzverfahren eröffnet wurde.
Am 2. April 2009 meldete die Beklagte unter anderem eine Hauptforderung von 52.868,64 € zur Tabelle an, die sie mit "Konto 901 (vormals 529)" bezeichnete. Hierzu reichte sie den Kontokorrentkreditvertrag sowie eine Forderungsberechnung ein, die mit einer "Verrechnung nach VKG/497 BGB" am 30. Januar 2009 begann. In der Anmeldung gab sie zudem an, die Schuldnerin habe ihr Sicherheiten bestellt, unter anderem die "Abtretung Einzelforderungen, Finanzamt/Investitionszulage".
Die Auszahlung der Investitionszulage und deren Verrechnung durch die Beklagte waren dem Kläger bis November 2014 unbekannt. Kontoauszüge zu dem Konto mit der vormaligen Nummer 529 lagen ihm bis dahin nicht vor. Er forderte diese erst im November 2014 bei der Beklagten an.
In dem der Anfechtung folgenden Rechtsstreit erhob die Beklagte schließlich die Einrede der Verjährung.
Nachdem das Landgericht zunächst im Sinne des Klägers entschied, wies die Berufungsinstanz die Klage ab. Der BGH hob wiederum das Urteil der Berufung auf und verwies zur Entscheidung dorthin zurück und nahm in diesem Zusammenhang und vor dem Hintergrund der möglichen Anspruchsverjährung u.a. zur Ermittlungspflicht des Verwalters Stellung.
Geltung der allgemeinen Verjährungsregelungen
Für insolvenzrechtliche Anfechtungsansprüche gelten bekanntermaßen gemäß § 146 InsO i.V.m. § 199 BGB die allgemeinen Verjährungsregelungen. Da Insolvenzanfechtungsansprüche frühestens mit Insolvenzeröffnung entstehen, greift die Regelverjährung auch frühestens nach Ablauf des dritten Jahres nach Insolvenzeröffnung. Dabei beginnt die Frist jedoch gemäß § 199 Abs. 1 Nr. 2 Fall 1 BGB nicht vor Ablauf des Jahres, in dem der Insolvenzverwalter Kenntnis von den anspruchsbegründenden Umständen erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste, etwa, weil er einem sich aufdrängenden Verdacht nicht nachgeht, auf der Hand liegende und erfolgversprechende Erkenntnismöglichkeiten nicht genutzt oder sich Kenntnis in zumutbarer Weise (etwa ohne nennenswerte Kosten) nicht verschafft (dazu bereits BGH, Urt. v. 15. Dezember 2016 – IX ZR 224/15).
Verletzung der Ermittlungspflicht vs. Verschulden
Da der Insolvenzverwalter in dem hier zugrundeliegenden Fall positive Kenntnis erst im Jahr 2014 erlangte, war zu klären, ob dem Kläger auch der Vorwurf der verjährungsrechtlich relevanten grob fahrlässigen Unkenntnis zu machen war.
Ausgehend von der Prämisse, dass sich diese grob fahrlässige Unkenntnis auf alle (objektiven wie subjektiven) Tatbestandsmerkmale des jeweiligen Anfechtungsanspruchs erstrecken muss, unterteilt der BGH die entsprechende Prüfung zunächst in zwei Stufen: (i) die Ermittlungspflicht an sich und (ii) die Ermittlung sämtlicher anspruchsbegründender Tatbestandsmerkmale.
1. Die Ermittlungspflicht an sich – Rechtzeitigkeit der Informationsbeschaffung
Auf Stufe 1 ist zunächst ausschlaggebend, ob der Verwalter in grob fahrlässiger Weise über den anzufechtenden Zahlungsvorgang selbst in Unkenntnis geblieben ist. Dies ist etwa dann der Fall, wenn er es unterlassen hat, rechtzeitig die hierfür notwendigen Informationen zu besorgen. Hierzu zählt u.a., dass er (auch ohne konkrete Verdachtsmomente und jedenfalls für den kritischen 3-Monatszeitraum vor Insolvenzantrag) die vorliegenden Kontounterlagen auf Vollständigkeit prüft, ggf. fehlende Unterlagen nachfordert und diese auswertet.
Dabei darf der Verwalter – zu messen an Umfang und Aufwand des jeweiligen Verfahrens – freilich zunächst vordringliche anderweitige Aufgaben im Verfahren erledigen, bevor er sich der Aufarbeitung von Anfechtungsansprüchen widmet. Auch kann er dabei strukturiert vorgehen, indem er zunächst die Buchhaltung auf anfechtbare inkongruente Zahlungen innerhalb des 1-Monatszeitraums überprüft und diesen Zeitraum sukzessive auf 3 Monate und darüber hinaus ausdehnt oder sich zunächst auf Zahlungen an institutionelle Gläubiger konzentriert.
Für diese Prüfung ist dem Verwalter nach Auffassung des BGH grundsätzlich kein längerer Zeitraum als die 3 Jahre der Regelverjährung zuzugestehen. Er handelt demnach grob fahrlässig, wenn er eine entsprechende Prüfung innerhalb dieser Frist unterlässt und dies gemessen an den Umständen des Verfahrens "aus der Sicht eines verständigen und auf sein Interesse bedachten Gläubigers als unverständlich erscheint".
2. Ermittlung der anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmale
Sind dem Verwalter auf Grundlage der Stufe 1-Prüfung Verdachtsmomente bekannt geworden, muss in einem zweiten Schritt geprüft werden, ob sich dem Verwalter die Erforderlichkeit weiterer Ermittlungen hätte aufdrängen müssen.
Dies ist – als Einzelfallentscheidung – dann zu bejahen, "wenn und sobald jeder sorgfältig arbeitende Verwalter den aus den Kontoauszügen ersichtlichen Vorgang aufgrund konkreter Verdachtsmomente zum Anlass genommen hätte, dessen Anfechtbarkeit zu prüfen".
Beispielhaft nennt der BGH die folgenden verdachtsbegründenden Anhaltspunkte, aus denen sich das Erfordernis weiterer Ermittlungen ergeben kann:
(i) die Forderungsanmeldung (etwa durch Hinweis auf weitere/ehemalige Konten, wie im zugrundeliegenden Fall); (ii) der Zahlungsvorgang (z.B. da in auffälliger Weise abweichend zu bisherigen Zahlungen) oder (iii) aus dem Verhalten des Schuldners (z.B. Zurückhalten der Geschäftsunterlagen ohne ersichtlichen Grund).
Umgekehrt können jedoch die besonderen Umstände des Einzelfalls (etwa Verschleierungsmaßnahmen des Schuldners) auch dazu führen, dass ein Unterlassen des Verwalters lediglich (einfach) fahrlässig ist.
Unterlässt der Verwalter angesichts der unter Stufe 1 festgestellten Verdachtsmomente weitere Ermittlungen, so wird seine Unkenntnis der anspruchsbegründenden Umstände zu dem Zeitpunkt grob fahrlässig, in dem seine Nachforschungen zum Erfolg geführt hätten.
Haftungsrisiko für den Insolvenzverwalter und sekundäre Darlegungslast
Sieht sich ein Verwalter schließlich mit dem Vorwurf der grob fahrlässigen Unkenntnis konfrontiert, dürfte er sich schnell auch einer Haftungsgefahr gem. § 60 InsO ausgesetzt sehen.
Zwar ist bzgl. der grob fahrlässigen Unkenntnis zunächst der sich auf die Einrede der Verjährung berufende Anfechtungsgegner darlegungs- und beweispflichtig. In der Praxis jedoch wird wohl regelmäßig den, die wesentlichen Tatsachen kennenden Insolvenzverwalter die sekundäre Darlegungslast treffen.
Vor diesem Hintergrund ist es unbedingt erforderlich, dass der Verwalter sein Vorgehen zur Ermittlung der Anfechtungsansprüche entsprechend dokumentiert. Dies betrifft insbesondere Fälle, in denen sich zwar Verdachtsmomente ergeben, der Verwalter schließlich jedoch auf die Geltendmachung verzichtet.
Weiterer Autor: Felix Mann