[München, ] Die EU-Marktmissbrauchsverordnung (VO Nr. 596/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates) wird ab dem 3. Juli 2016 unmittelbar wirksam sein.
Die Vorschriften der EU-Marktmissbrauchsverordnung ("MMVO") ersetzen zahlreiche kapitalmarktrechtliche Regelungen der einzelnen Mitgliedstaaten und bringen diesen gegenüber teils erhebliche Verschärfungen mit sich. So sind künftig auch Freiverkehrsemittenten, deren Wertpapiere auf ihre Initiative hin zum Handel einbezogen sind, insbesondere zu Ad-hoc-Publizität, zum Führen von Insiderlisten und auch zur Beachtung der Regeln über Directors' Dealings verpflichtet.
Darüber hinaus wird das Marktmissbrauchsrecht in Sachen Insiderhandel und Marktmanipulation weiter verschärft. Zudem entwickelt die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde ESMA konkretisierende Rechtsakte und technische Standards zur Durchsetzung der MMVO.
I. Wesentliche Änderungen durch die MMVO
In Zukunft werden im Rahmen der Vereinheitlichung und Verschärfung des Marktmissbrauchsrechts in der gesamten EU wesentliche Regelungskomplexe des Kapitalmarktrechts nicht mehr durch einzelstaatliche Gesetze (in Deutschland: WpHG) geregelt, sondern durch die unmittelbar geltenden Bestimmungen der MMVO.
1. Ad-hoc-Publizität
Künftig müssen nach Art. 17 MMVO auch alle Freiverkehrsemittenten sog. Insiderinformationen unverzüglich offenlegen. Zu veröffentlichen sind solche Informationen, die im Falle ihres öffentlichen Bekanntwerdens geeignet wären, den Börsenkurs oder Marktpreis der betreffenden Wertpapiere erheblich zu beeinflussen.
In Anlehnung an die Entscheidung des EuGH in Sachen „Geltl/Daimler“ (Urt. v. 28. 6. 2012 – C-19/11) geht auch die MMVO davon aus, dass bei zeitlich gestreckten Vorgängen bereits Zwischenschritte veröffentlichungspflichtige Insiderinformationen darstellen können (vgl. Art. 17 IV MMVO).
Ad-hoc-Mitteilungen müssen nach Art. 17 I MMVO mindestens fünf Jahre (bisher: ein Monat) auf der Internetseite des Emittenten zugänglich sein und in das Unternehmensregister eingestellt werden.
Besteht ein berechtigtes Interesse seitens des Emittenten, ist der Aufschub der Veröffentlichung einer Ad-hoc-Mitteilung auch künftig möglich (Selbstbefreiung), wenn keine Irreführung der Öffentlichkeit zu befürchten und die Vertraulichkeit der Information sichergestellt ist. Diese Möglichkeit des Aufschubs endet künftig indes bei Informationslecks und auch bei ausreichend präzisen Gerüchten (Art. 17 VII MMVO).
2. Insiderlisten
Emittenten von Finanzinstrumenten, die der Ad-hoc-Pflicht unterliegen, haben Insiderlisten zu führen. Somit sind künftig also auch Freiverkehrsemittenten verpflichtet, Insiderlisten zu führen (Art. 18 I lit. a) MMVO). Damit besteht auch für alle im Auftrag oder auf Rechnung eines Freiverkehrsemittenten handelnde Personen diese Pflicht. In die stets zu aktualisierenden Listen sind sämtliche Personen aufzunehmen, die Zugang zu Insiderinformationen eines Emittenten haben. Des Weiteren sind alle zu erfassende Personen über ihre insiderrechtlichen Pflichten und die Folgen bei Verstößen aufzuklären. Dabei ist eine schriftliche Bestätigung erforderlich, dass sie die Pflichten anerkennen (Art. 18 II MMVO).
3. Verbot von Insidergeschäften
Unter den Tatbestand eines verbotenen Insidergeschäfts kann künftig auch die Stornierung oder Änderung eines noch nicht durchgeführten Auftrages fallen (Art. 8 I 2 MMVO). Darüber hinaus wird das Handeln aufgrund einer Empfehlung als Tatbestand hinzugefügt. Somit stellt ein Erwerb aufgrund einer Empfehlung einer Person, die wissen sollte, dass die Empfehlung auf einer Insiderinformation beruht, ein verbotenes Insidergeschäft dar (Art. 8 III MMVO).
Ferner führte die Entscheidung des EuGH in Sachen „Spector/Photo Group“ (Urt. v. 23.12.2009 – C-45/08) zur Einführung des Art. 9 MMVO. Demnach werden explizit einzelne Handlungsweisen als „Legitime Handlungen“ von der Anwendung des Insiderhandelsverbot ausgeschlossen. Dazu gehört beispielsweise die Erfüllung einer Verpflichtung, die auf der Erteilung eines Auftrages oder dem Abschluss einer Vereinbarung aus der Zeit vor dem Erhalt der Insiderinformationen beruht (Art. 9 III lit. a) MMVO).
Neu ist zudem auch die Regelung zur befugten Weitergabe von Insiderinformationen im Rahmen einer Marktsondierung (Art. 11 MMVO). Bisher war das market sounding anlässlich der Platzierung von Wertpapieren nicht gesetzlich geregelt. Als Marktsondierung definiert die MMVO die Übermittlung von Informationen vor der Ankündigung eines Geschäfts durch den Emittenten, einen Zweitanbieter oder einen Dritten, der im Auftrag des Emittenten oder des Zweitanbieters tätig wird, an einen oder mehrere potenzielle Anleger, um das Interesse von potenziellen Anlegern an einem möglichen Geschäft und dessen Bedingungen abzuschätzen (Art. 11 I MMVO). Dabei bleibt zu beachten, dass diese Vorschrift keine safe harbours festlegt. Sie bestimmt für die Marktsondierung umfangreiche Prüf-, Verhaltens- und Dokumentationspflichten (Art. 11 V-VII MMVO). Insbesondere hat der offenlegende Marktteilnehmer sicherzustellen, dass der Empfänger der Insiderinformation die Wahrung der insiderrechtlichen Pflichten aus Art. 11 V MMVO erklärt.
4. Directors' Dealings
Künftig müssen auch die Führungskräfte von Freiverkehrsemittenten und mit solchen in enger Beziehung stehende Personen dem Emittenten und der zuständigen Behörde jedes Eigengeschäft in Aktien oder Schuldtiteln – d.h. insbesondere auch in Anleihen – unverzüglich melden, und zwar innerhalb von drei Geschäftstagen nach Geschäftsabschluss (Art. 19 I MMVO). Zum Tragen kommen die Regelungen zu Directors' Dealings dann, wenn die betreffende Führungskraft und die ihr nahestehenden Personen innerhalb eines Kalenderjahres Geschäfte im Gesamtvolumen von 5.000 Euro (ohne Netting) getätigt haben (Art. 19 VIII MMVO).
Die Emittenten haben ihre Führungskräfte über die Pflichten bei Eigengeschäften schriftlich zu belehren und eine Liste ihrer Führungskräfte und der diesen nahestehenden Personen zu erstellen. Zudem regelt Art. 19 XI MMVO, dass Führungskräfte und ihnen nahestehende Personen innerhalb von geschlossenen Zeiträumen (closed periods) von 30 Kalendertagen vor „Ankündigung“ eines Zwischenberichts oder eines Jahresabschlusses keine Eigengeschäfte in Aktien oder Schuldtiteln des Emittenten tätigen dürfen.
5. Verbot der Marktmanipulation
Die MMVO beinhaltet zudem deutliche Verschärfungen des Marktmissbrauchsrecht. Der Verbotstatbestand der Marktmanipulation orientiert sich weitgehend an der bisherigen Marktmissbrauchsrichtlinie. Zukünftig ist allerdings nicht nur die vollendete Marktmanipulation verboten, sondern auch bereits deren Versuch.
6. Sanktionen
Durch Art. 30 II lit. i) bzw. lit. j) MMVO wird der Bußgeldrahmen drastisch erhöht. Künftig kann bei Verstößen gegen des Verbot von Insidergeschäften nach Art. 14 MMVO oder gegen das Verbot der Marktmanipulation nach Art. 15 MMVO die Geldbuße für Unternehmen bis zu 15 Mio. Euro oder 15 % des Konzernjahresumsatzes betragen, für Führungskräfte bis zu 5 Mio. Euro. Bei Verstößen gegen die Pflichten nach Art. 16 (Vorbeugung und Aufdeckung von Marktmissbrauch) und Art. 17 MMVO (Veröffentlichung von Insiderinformationen) kann die Geldbuße bis zu 2,5 Mio. Euro oder 2 % des Konzernjahresumsatzes betragen, für Führungskräfte bis zu 1 Mio Euro. Bei den genannten Verstößen kann es jeweils zu einer Gewinnabschöpfung kommen.
Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) hat zukünftig, mit der Intention der Abschreckung, ergangene Bußgeldentscheidungen unter Offenlegung von Art und Charakter des Verstoßes und der Identität der betroffenen Person für fünf Jahre auf ihrer Internetseite zu veröffentlichen (Art. 34 I MMVO, naming and shaming).
Die MMVO wird flankiert durch die EU-Richtlinie über strafrechtliche Sanktionen bei Marktmanipulation (Richtlinie 2014/57/EU des Europäischen Parlaments und des Rates), welche in den Mitgliedstaaten bis zum 3. Juli 2016 in nationales Recht umzusetzen ist. Für vorsätzliche Rechtsverstöße im Bereich des Insiderrechts und/oder der Marktmanipulation sieht diese Richtlinie erstmals eine strafrechtliche Sanktionierung vor. In diesem Zusammenhang ist insbesondere geregelt, dass auch juristische Personen zur Verantwortung gezogen werden können.
II. Bedeutung für Freiverkehrsemittenten
1. Verbleibende Erleichterungen
Trotz den einschneidenden Änderungen für Freiverlehrsemittenten durch die MMVO verbleiben einige der Vorteile der Freiverkehrsnotiz gegenüber der Zulassung zum Handel im organisierten Markt:
Für die Einbeziehung zum Handel im Freiverkehr ist weiterhin kein Börsenzulassungsprospekt erforderlich, der zwingend auch von der die Transaktion begleitenden Bank zu unterzeichnen wäre.
Im Bereich der Einbeziehungsfolgepflichten bleibt es dabei, dass die Bilanzierung weiterhin nach dem HGB erfolgen kann. Auch besteht regelmäßig keine Pflicht zur Erstattung von Quartalsberichten.
Aus Sicht maßgeblich beteiligter Aktionäre ist wesentlich, dass weder die Vorschriften zu Stimmrechtsmitteilungen nach §§ 21 ff. WpHG noch die zur Abgabe eines Pflichtangebotes nach §§ 35 ff. WpÜG Anwendung finden.
2. Handlungsoptionen
Gleichwohl führt die MMVO für Freiverkehrsemittenten zu deutlich erweiterten kapitalmarktrechtlichen Folgepflichten und damit auch zu höheren Haftungsrisiken durch eine allgemein drastische Verschärfung der Sanktionen.
Vor diesem Hintergrund sind vornehmlich die Freiverkehrsemittenten aufgerufen, ihre internen Organisationsstrukturen und ihre kapitalmarktrechtliche Compliance an die neue Rechtslage anzupassen.
Abhängig vom Einzelfall werden einige Freiverkehrsemittenten abwägen müssen, ob angesichts der neuen Erfordernisse der MMVO die Vorteile einer Freiverkehrsnotiz deren Nachteile noch überwiegen, oder ob nicht die Zulassung zum organisierten Markt von Vorteil ist und somit angestrebt werden sollte.
Diejenigen Emittenten, die die neuen kapitalmarkrechtlichen Folgepflichten vermeiden wollen, werden dagegen über ein vollständiges Delisting nachdenken müssen.