EuGH zur Massenentlassung - Jetzt auch Fehler ohne Folgen

Berlin, 14.07.2023

Verstoß gegen die Übermittlungspflicht an die Agentur für Arbeit führt nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung.

1. Einleitung

Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 13. Juli 2023, Az.: C-134/22, entschieden, dass die EU-Massenentlassungsrichtline (RL 98/59/EG) dahingehend auszulegen ist, dass die Verpflichtung des Arbeitgebers der zuständigen Behörde eine Abschrift des Konsultationsschreibens zu übermitteln, keine Schutzvorschrift zugunsten der Arbeitnehmer ist.

Mit Beschluss vom 27. Januar 2022 (6 AZR 155/21) legte der 6. Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens die Frage vor, wie ein Verstoß gegen die Informationspflicht des Arbeitgebers gegenüber der Agentur für Arbeit im Rahmen von anzeigepflichtigen Massenentlassungen zu sanktionieren ist (hierzu berichtete bereits Frau Ceren Smajgert, LL. B. (London) im Legal Update vom 12. April 2022).

Grundsätzlich bedeutet die Anzeige einer Massenentlassung für Unternehmen die Überwindung zahlreicher formeller Hürden. Dazu gehört auch die Pflicht, vor Ausspruch der Kündigungen die zuständige Arbeitnehmervertretung umfassend schriftlich über die geplanten Entlassungen zu unterrichten und ein Konsultationsverfahren mit ihr durchzuführen, bei dem über die geplanten Entlassungen beraten wird (§ 17 Abs. 2 KSchG). Hierzu erhält der Betriebsrat vom Arbeitgeber eine schriftliche Mitteilung, in der zwingend u. a. die Gründe für die geplanten Entlassungen, die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden Arbeitnehmer, der Zeitraum für die geplanten Entlassungen und die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer enthalten sein müssen. Bei Nichtbeachtung dieser Vorgaben droht nichts Geringeres als die Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen gem. § 134 BGB. Gleichzeitig hat der Arbeitgeber gem. § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG der Agentur für Arbeit eine Abschrift der dem Betriebsrat übersandten schriftlichen Konsultationsabschrift zuzuleiten. Der Europäische Gerichtshof hat nunmehr festgestellt, dass ein Verstoß gegen diese Übermittlungspflicht des Arbeitgebers an die Agentur für Arbeit keinen Individualschutz gewährt. Die Entscheidung des vorlegenden Bundesarbeitsgerichts steht zwar noch aus, aber es ist damit zu rechnen, dass ein Verstoß gegen § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG eine Unwirksamkeit der Kündigung nicht zur Folge hat.

 2. Hintergrund der EuGH-Entscheidung

Anlässlich eines Kündigungsschutzprozesses hatte sich der 6. Senat des BAG mit der Frage auseinanderzusetzen, wie ein Verstoß gegen die Übermittlungspflicht gem. § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG zu sanktionieren ist. Weil der deutsche Gesetzgeber mit § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG den Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG des Rates vom 20.07.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (MERL) in nationales Recht umgesetzt hat, kommt es aus Sicht des vorlegenden Senats darauf an, welcher Schutzzweck der Übermittlungspflicht zukommt. Bei Unklarheiten ist der EuGH für die Auslegung des sekundären Unionsrechts zuständig.

Hintergrund ist, dass weder § 17 KSchG noch die MERL eine ausdrückliche Sanktion für Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren vorsehen. Fehlen unionsrechtliche Vorgaben, ist es den Mitgliedsstaaten anheimgestellt, festzulegen, welche Rechtsfolge ein Verstoß nach sich ziehen soll. Die Mitgliedsstaaten haben dabei darauf zu achten, dass die Sanktion wirksam, verhältnismäßig und abschreckend ist und ein Verstoß allgemein nach sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet wird. In Anwendung dieser Grundsätze hat das BAG in der Vergangenheit wiederholt angenommen, dass Verstöße gegen die den Arbeitgeber im Zusammenhang mit Massenentlassungen treffende Pflichten wie die zur Konsolidierung des Betriebsrates wegen des mit ihnen bezweckten Arbeitnehmerschutzes zur Nichtigkeit der Kündigung gem. § 134 BGB führen.

3. Die Entscheidung des EuGHs

Der EuGH hat nach Auslegung der EU-Massenentlassungsrichtlinie entschieden, dass Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 dahingehend zu auszulegen ist, dass diese Vorschrift keinen Individualschutz gewährt, der im nationalen Recht in § 17 KSchG umgesetzt worden ist. Der EuGH dekliniert dafür – wie immer – streng dogmatisch die vier Auslegungsmethoden durch: Wortlaut, systematischer Zusammenhang, Zwecksetzung und Entstehungsgeschichte.

a) Wortlaut

Der EuGH stellt eingangs kurz fest, dass sich aus dem Wortlaut von Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 keine Anhaltspunkte über den Zweck der Übermittlungspflicht ergeben.

b) Systematischer Zusammenhang

Aus dem systematischen Zusammenhang folge, dass Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 den Arbeitnehmern einen kollektiven, aber keinen individuellen Schutz gewährt.

Dafür spreche, dass die maßgebliche Bestimmung nicht im Teil III („Massenentlassungsverfahren“), sondern im Teil II („Information und Konsultation“) verortet ist. In diesem Stadium ist eine Massenentlassungsanzeige lediglich avisiert und das Konsultationsverfahren mit der Arbeitnehmervertretung wurde noch nicht durchgeführt.

c) Zwecksetzung

Aus der Zwecksetzung folge ebenfalls, dass Art. 2 Abs. 3 UAbs. 2 den Arbeitnehmern einen kollektiven, aber keinen individuellen Schutz gewährt.

Denn die Behörde soll sich durch die Übermittlung der Konsultationsabschrift zunächst nur einen Überblick über die Gründe der geplanten Entlassung, die Zahl und die Kategorien der zu entlassenden Arbeitnehmer, die Zahl und die Kategorien der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen, sowie die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer, soweit die innerstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Praktiken dem Arbeitgeber die Zuständigkeit dafür zuerkennen, verschaffen.

Die zuständige Behörde habe darüber hinaus keine aktive Rolle im Konsultationsverfahren. Sie sei nur Adressatin der Abschrift und diene nur zu Informations- und Vorbereitungszwecken.

d) Entstehungsgeschichte

Der EuGH stellt abschließend fest, dass sich aus der

Entstehungsgeschichte der Vorschrift eine arbeitsmarktpolitische Zielsetzung ergibt, die ebenfalls gegen Individualschutz spreche. Dies bestätige die Annahme, dass die Übermittlung der Konsultationsabschrift reinen Informations- und Vorbereitunscharakter hat.

4. Bewertung und Ausblick

Die Entscheidung des EuGHs ist aus unserer Sicht zu begrüßen. Sie macht deutlich, dass ein Verstoß gegen § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG mangels Individualschutzes nicht die Unwirksamkeit der Kündigung zur Folge hat.

Dem ist beizupflichten, schließlich wäre es reine Förmelei, die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung an dem Verstoß gegen die vorbeschriebene Übermittlungspflicht scheitern zu lassen. Die Behörde hat in diesem Verfahrensstadium keine Möglichkeit individuellen Schutz zugunsten der betroffenen Arbeitnehmer zu gewährleisten.

Das Urteil reduziert für Arbeitgeber die Risiken im Rechtecht aufwendigen Massenentlassungsverfahren - ein Punkt weniger der zur Unwirksamkeit von betriebsbedingten Kündigungen führen kann. Obacht: Das Vorabentscheidungsersuchen hatte nicht die Frage zum Gegenstand, welchen Schutzgehalt dem Konsultationsverfahren als solches zukommt. Daher bleibt es mit der gegenwärtigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts dabei, dass ein Verstoß gegen § 17 Abs. 2 KSchG zur Unwirksamkeit der Kündigung führt und diese Vorschrift bei massenentlassungspflichtigen Personalabbaumaßnahmen zwingend zu beachten ist.

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