BAG: Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

Berlin, 14.12.2023

Das Bundesarbeitsgericht urteilte am 13. Dezember 2023, dass der Beweiswert von 
(Folge-)Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen auch dann erschüttert sein kann, wenn der arbeitsunfähige Arbeitnehmer nach Erhalt der Kündigung eine oder mehrere Folgebescheinigungen vorlegt, die exakt die Dauer der Kündigungsfrist umfassen, und der Arbeitnehmer nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses nahtlos eine neue Tätigkeit aufnimmt (BAG, Urteil vom 13. Dezember 2023 – 5 AZR 137/23 – Bundesarbeitsgericht).

Damit führte das Bundesarbeitsgericht seine Rechtsprechungslinie aus dem Jahr 2021 fort (BAG, Urteil vom 8. September 2021 – 5 AZR 149/21 - Bundesarbeitsgericht). Damals entschied das Bundesarbeitsgericht: Wenn die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung passgenau für den Zeitraum bis zum Ende der Kündigungsfrist zeitgleich mit der arbeitnehmerseitigen Kündigung beim Arbeitgeber eingereicht werde, die Beweiskraft der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert sein kann. Aufgrund des Einzelfallcharakters dieser Entscheidung war bislang unklar, inwieweit dies auch für Fälle der arbeitgeberseitigen Kündigung gilt und welche Anforderungen an die zeitliche Koinzidenz der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und des Zeitraums bis zum Ende der Kündigungsfrist zu stellen sind.

BAG Urteil vom 13. Dezember 2023 – 5 AZR 137/23


Mit diesen Fragen befasste sich das Bundesarbeitsgericht nunmehr in seinem Urteil vom 13. Dezember 2023.

Im zugrundeliegenden Fall reichte der klagende Arbeitnehmer bei dem beklagten Arbeitgeber am Montag, den 2. Mai 2022 eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, beginnend ab dem 2. Mai 2022 voraussichtlich bis zum 6. Mai 2022 ein. Der Arbeitgeber kündigte mit Schreiben vom 2. Mai 2022 das Arbeitsverhältnis mit Wirkung zum 31. Mai 2022, welches dem Arbeitnehmer am 3. Mai 2022 zuging. Mit zwei Folgebescheinigungen wurde die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers exakt bis zum Ablauf der Kündigungsfrist am 31. Mai 2022 bescheinigt. Am Mittwoch, den 1. Juni 2022 nahm der just wieder arbeitsfähige Arbeitnehmer eine neue Tätigkeit bei einem anderen Arbeitgeber auf. Der beklagte Arbeitgeber verweigerte für die Arbeitsunfähigkeitszeiten im Mai 2022 die Entgeltfortzahlung, da der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erschüttert sei. 

Die Vorinstanzen widersprachen der Rechtsauffassung des beklagten Arbeitgebers und haben der Klage des Arbeitnehmers auf Entgeltfortzahlung stattgegeben.

Die Revision des Arbeitgebers hatte teilweise Erfolg. Das Bundesarbeitsgericht hob das Urteil der Vorinstanz insoweit auf, als es die Berufung des Arbeitgebers hinsichtlich der Zahlung für den Zeitraum vom 7. Mai 2022 bis zum 31. Mai 2022 zurückgewiesen hat.

Zum Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

Das Bundesarbeitsgericht knüpfte für das Entscheidungsergebnis zunächst an seine Rechtsprechung zum hohen Beweiswert von ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen an. Der Arbeitgeber könne den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aber erschüttern, indem er Tatsachen vorträgt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers geben. Ein bloßes Bestreiten der Arbeitsunfähigkeit mit Nichtwissen reicht damit gerade nicht aus. Gelingt es dem Arbeitgeber den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung durch seinen Tatsachenvortrag zu erschüttern, so bleibt es bei der ursprünglichen Beweislast und der Arbeitnehmer muss seine Arbeitsunfähigkeit als anspruchsbegründende Voraussetzung seines Entgeltfortzahlungsanspruchs aus § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG beweisen.

Zur Erschütterung des Beweiswerts

Das Gericht stellte daraufhin fest, dass als Umstände für die Erschütterung des Beweiswerts der Bescheinigungen unerheblich ist, ob der Arbeitgeber oder der Arbeitnehmer die Kündigung ausgesprochen haben oder ob für den Nachweis der Arbeitsunfähigkeit eine oder mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt worden seien. Immer sei allerdings eine einzelfallbezogene Würdigung der Gesamtumstände notwendig. Danach sei bei der ersten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eine zeitliche Koinzidenz zwischen Kündigung und Arbeitsunfähigkeit nicht gegeben, da die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bereits am 2. Mai 2022 und damit vor Kündigungszugang ausgesprochen wurde. Anders sei dies bei den Folgebescheinigungen durch die haargenaue Verlängerung der Arbeitsunfähigkeit bis zum Ablauf der Kündigungsfrist und dem Umstand, dass der Kläger unmittelbar am Folgetag eine neue Tätigkeit bei einem anderen Arbeitgeber aufnahm.

Das Bundesarbeitsgericht deutete zudem an, dass bei einer nachweislichen Kenntnis des Arbeitnehmers von der beabsichtigten Arbeitgeberkündigung, z. B. durch Einbindung in die Betriebsratsanhörung, eine daraufhin angezeigte Arbeitsunfähigkeit exakt bis zum Ablauf der Kündigungsfrist und Aufnahme einer anderen Tätigkeit am Folgetag, diese Umstände den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für den gesamten Zeitraum erschüttern könnten. 

Weitere Praxisbeispiele 

Die bisherige Kasuistik für die Erschütterung des Beweiswerts wird damit fortgesetzt.

Die Rechtsprechung hat neben den oben genannten Fallkonstellationen die Erschütterung des Beweiswerts auch in Fällen angenommen, in denen der Vortrag des Arbeitnehmers und der Inhalt der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht übereinstimmten (BAG, Urteil vom 26. Oktober 2016 – 5 AZR 167/16 - Bundesarbeitsgericht), in denen der ausstellende Arzt den Arbeitnehmer nicht vor Ausstellung untersucht hatte (BAG, Urteil vom 11. August 1976 – 5 AZR 422/75), in denen der Arbeitnehmer sein Fernbleiben nach einer Auseinandersetzung mit dem Arbeitgeber angekündigt hatte (BAG, Urteil vom 4. Oktober 1978 – 5 AZR 326/77), in denen der Arbeitnehmer regelmäßig am Anfang oder am Ende des Erholungsurlaubs krankgeschrieben wurde (BAG, Urteil vom 20. Februar 1985 – 5 AZR 180/83) und in denen der Arbeitnehmer während der attestierten Zeit der Arbeitsunfähigkeit anderen beruflichen Tätigkeiten selbständig oder für andere Arbeitgeber nachkam (BAG, Urteil vom 26. August 1993 – 2 AZR 154/93; LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 4. Mai 2021 – 6 Sa 359/20 - Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz).

Praxisrelevanz und Fazit

Die aktuelle Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts gibt dem Arbeitgeber neue Hinweise, wann Anlass besteht, die Lohnfortzahlung zu verweigern. Die weiteren Beispiele können hierfür ebenfalls als Richtschnur herangezogen werden. Maßgebend ist jedoch stets eine Einzelfallbetrachtung, sodass auch bei (vermeintlich) geringfügigen Unterschieden der Sachverhalte die gerichtliche Bewertung anders ausfallen kann. 

Wichtig zu beachten ist zudem, dass allein die Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht genügt, damit der Entgeltfortzahlungsanspruch entfällt. Vielmehr kann der Arbeitnehmer noch andere konkrete Tatsachen darlegen und im Bestreitensfall beweisen, die den Schluss auf eine bestandene Erkrankung zulassen. Der Arbeitnehmer muss dann allerdings u. a. substantiiert vortragen, welche Krankheiten vorlagen, welche gesundheitlichen Einschränkungen bestanden oder Medikamente ärztlich verordnet wurden. 

Vor diesem Hintergrund wären zur Vermeidung von aufwendigen Rechtsstreitigkeiten und Erhöhung der Rechtssicherheit für beide Parteien jedoch klarere Vorgaben durch den Gesetzgeber wünschenswert.

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