Paukenschlag am Bundesarbeitsgericht – Kurswechsel bei Fehlern im Massenentlassungsanzeigeverfahren?

Köln, 14.12.2023

Einleitung

Beabsichtigt ein Arbeitgeber einen Personalabbau, der innerhalb von 30 Tagen zu einer Überschreitung der in § 17 Abs. 1 KSchG normierten Schwellenwerte führt, ist der Arbeitgeber verpflichtet, vor Ausspruch der beabsichtigten Kündigungen gemäß § 17 Abs. 2 KSchG einen etwaig gebildeten Betriebsrat zu konsultieren (sog. Konsultationsverfahren) und gemäß § 17 Abs. 1 und 3 KSchG der zuständigen Agentur für Arbeit die beabsichtigten Kündigungen anzuzeigen (sog. Massenentlassungsanzeige).

Fehler bei der Durchführung des Konsultationsverfahrens und der Erstattung der Massenentlassungsanzeige führen nach der seit 2012 ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts in der Regel zur Unwirksamkeit aller ausgesprochenen anzeigepflichtigen Kündigungen. Dementsprechend sind Konsultations- und Anzeigeverfahren für Arbeitgeber mit erheblichen Risiken verbunden.

Eine Entscheidung des 6. Senats des Bundesarbeitsgerichts vom heutigen Tag gibt nun Anlass zur Hoffnung, dass sich dies künftig ändern könnte.

Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts vom 11. Mai 2023

Bereits am 11. Mai 2023 äußerte der 6. Senat des Bundesarbeitsgerichts überraschend Zweifel an der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und erklärte, das vom Bundesarbeitsgericht entwickelte Sanktionssystem für Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren stehe möglicherweise nicht im Einklang mit der Systematik des Massenentlassungsschutzes, wie er durch die europäische Massenentlassungsrichtlinie vermittelt werde und könne darum unverhältnismäßig sein. Vor diesem Hintergrund hatte das Bundesarbeitsgericht insgesamt vier Verfahren wegen der Unsicherheit über die Sanktionen im Massenentlassungsverfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union in der Rechtssache C-134/22 (teilweise) ausgesetzt.

In den zugrundeliegenden Kündigungsschutzverfahren hatte der beklagte Arbeitgeber trotz Überschreitung der in § 17 Abs. 1 KSchG normierten Schwellenwerte vor Ausspruch der streitgegenständlichen Kündigungen keine oder lediglich eine nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts fehlerhafte Massenentlassungsanzeige erstattet.  

Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 14. Dezember 2023

Nachdem der Gerichtshof der Europäischen Union bereits am 13. Juli 2023 sein Urteil in der Rechtssache C-134/22 verkündet hat, hat der 6. Senat des Bundesarbeitsgerichts heute erklärt, dass er beabsichtigt, seine bisherige Rechtsprechung, wonach eine im Rahmen einer Massenentlassung ausgesprochene Kündigung unwirksam ist, sofern im Zeitpunkt der Kündigungserklärung keine oder eine fehlerhafte Massenentlassungsanzeige vorliegt, aufzugeben.

Eine Aufgabe dieser Rechtsprechung stünde jedoch in Widerspruch zur Rechtsprechung des 2. Senats des Bundesarbeitsgerichts, der bei Fehlern im Massenentlassungsanzeigeverfahren bis dato von der Unwirksamkeit aller anzeigepflichtigen Kündigungen ausgeht und das derzeit bestehende Sanktionssystem bei Fehlern im Massenentlassungsanzeigeverfahren maßgeblich mitgeprägt hat. Angesichts dessen hat der 6. Senat des Bundesarbeitsgerichts mit Beschluss vom heutigen Tag beim 2. Senat angefragt, ob dieser an seiner bisherigen Rechtsaufassung festhält. Erklärt der 2. Senat, an seiner Rechtsaufassung nicht festzuhalten, wäre der Weg frei für eine Änderung der Rechtsprechung. Erklärt der 2. Senat hingegen, an seiner bisherigen Rechtsaufassung weiter festzuhalten, wäre der 6. Senat verpflichtet, den Großen Senat des Bundesarbeitsgerichts, der aus der Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, je einem Richter aus den übrigen neun Senaten sowie je drei ehrenamtlichen Richtern aus Kreisen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber besteht, anzurufen.

Ausblick und Praxishinweis

Die heutige Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts gibt zwar Anlass zur Hoffnung, überschwängliche Jubelrufe anzustimmen wäre aber verfrüht.

Zum einen ist nicht absehbar, wie sich der 2. Senat positionieren wird. Gleiches gilt im Falle einer Anrufung des Großen Senats. Zum anderen ist nicht davon auszugehen, dass das Bundesarbeitsgericht im Falle einer Rechtsprechungsänderung zu dem Ergebnis kommt, dass eine unterbliebene oder fehlerhafte Massenentlassungsanzeige für den Arbeitgeber sanktionslos bleibt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass das Bundesarbeitsgericht das Sanktionssystem für Fehler im Massenentlassungsanzeigeverfahren im Falle einer Rechtsprechungsänderung neu ausrichten wird. Bei Fehlern im Konsultationsverfahren kommt beispielsweise ein Nachteilsausgleichsanspruch der betroffenen Arbeitnehmer in entsprechender Anwendung des § 113 BetrVG in Betracht. Bei unterbliebener oder fehlerhafter Massenentlassungsanzeige wäre beispielsweise eine Entlassungssperre nach § 18 Abs. 1 KSchG oder ein Schadensersatzanspruch der betroffenen Arbeitnehmer denkbar.

Bis zu einer abschließenden Entscheidung durch das Bundesarbeitsgericht sind Arbeitgeber also weiterhin gut beraten, sowohl Konsultations- als auch Anzeigeverfahren mit größter Sorgfalt durchzuführen


 

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