Die umsatzsteuerliche Organschaft ist immer wieder Gegenstand von Diskussionen und Unsicherheit. Es besteht eigentlich dringender Reformbedarf. Nunmehr ist in diesem Zusammenhang ein weiterer Aspekt in Zweifel gezogen worden, der bisher eindeutig schien. Eine Formulierung des EuGHs stellt die Nicht-Steuerbarkeit von Innenumsätzen, die seit Jahrzehnten anerkannt war, in Frage. Der BFH hat diesen Punkt aufgegriffen und den EuGH zur Entscheidung aufgefordert. Bis zu einer Entscheidung wird die rechtliche Unsicherheit fortbestehen. Auch wenn es nicht überwiegend wahrscheinlich ist, dass der EuGH das tradierte Rechtsverständnis verwirft, so ist es doch auch nicht ausgeschlossen. Wie es dazu kam und was daraus folgt, wird nachstehend näher ausgeführt.
Praktische Relevanz der umsatzsteuerlichen Organschaft
Die Unternehmen der Gesundheits- sowie der Banken-/Versicherungsbranche erbringen über-wiegend umsatzsteuerfreie Leistungen. Aber auch Unternehmen der Baubranche erbringen teilweise umsatzsteuerfreie Leistungen. Die Kunden profitieren davon, wenn sie nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt sind, da sie auf das Nettoentgelt nicht zusätzlich die Umsatzsteuer zahlen müssen. Allerdings sind die genannten Unternehmen im Gegenzug auch nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt. Kaufen sie also umsatzsteuerpflichtige Leistungen ein, so ist die in Rechnung gestellte Umsatzsteuer für sie eine definitive Belastung. Das schlägt sich dann auch in den Preisen für die Kunden nieder.
Gerade in der medizinischen und der Bankenbranche ist daher die umsatzsteuerliche Organschaft von Bedeutung. Denn nach bisher nie angezweifelter allgemeiner Auffassung sind Leistungen innerhalb eines Organkreises nicht umsatzsteuerbar. Dem liegt das Verständnis zugrunde, dass der Organkreis umsatz-steuerlich wie ein einziges Unternehmen anzusehen ist. Beispielsweise kann es also für ein Krankenhaus interessant sein, eine Mehrheitsbeteiligung an einem Reinigungsdienstleistungsunternehmen zu halten (finanzielle Eingliederung) und die organisatorische und wirtschaftliche Eingliederung zu bewirken. Das Reinigungsdienstleistungsunternehmen erbringt die Leistungen dann als rechtliche separate Einheit, aber aufgrund der umsatz-steuerlichen Organschaft ohne Umsatzsteuer in Rechnung stellen zu müssen. Wirtschaftlich sinnvoll ist ein solches Vorgehen, wenn der Leistende aus dem Organkreis seinerseits keine umsatzsteuerpflichtigen Leistungen ein-kaufen muss, also insbesondere bei arbeitnehmerintensiven Leistungen wie z.B. Reinigung, Catering oder ähnlichem. Im Wettbewerb bieten auf diese Weise reduzierte Kosten Vorteile.
Soweit z.B. Bauunternehmen Wohnungen errichten, die sie nur umsatzsteuerfrei ver-äußern können, können nach bisheriger Rechtslage andere Unternehmen aus dem Konzernkreis nicht umsatzsteuerbare Leistungen erbringen, wenn die Voraussetzungen der Organschaft vorlagen. Soweit also die anderen Konzernunternehmen eigene Leistung-en erbringen, die sie nicht von Dritten einkaufen, entsteht ebenfalls der vorgenannte Vorteil.
Vorlagebeschluss des BFH vom 26.1.2023
Diese bisher nie ernsthaft angezweifelten Gestaltungen, die auf der Nicht-Steuerbarkeit von Innenumsätzen im Organkreis beruhen, könnten bald der Vergangenheit angehören. Spätestens seit einem Vorlagebeschluss des BFH an den EuGH (BFH, Beschl. v. 26.1.2023 – V R 20/22 (V R 40/19), DStR 2023, 632) herrscht Unsicherheit darüber, ob Innenumsätze im Organkreis richtlinienkonform als nicht umsatzsteuerbar behandelt werden können.
Was war geschehen? Die deutschen Regelungen zur umsatzsteuerlichen Organschaft boten in der Vergangenheit immer wieder Anlass für Streit zwischen Steuerpflichtigen und Finanzämtern und für Vorlagen des BFH beim EuGH. Das deutsche Modell der umsatz-steuerlichen Organschaft fügt sich in vielerlei Hinsicht nicht nahtlos in die Vorgaben der Mehrwertsteuersystemrichtlinie und ihrer Vorgänger-Richtlinien ein. Woran jedoch bisher nie Zweifel bestand, war die Grundidee, dass bei einer Organschaft umsatzsteuerlich ein einheitliches Unternehmen vorliegt, woraus zwingend gefolgert wurde, dass Leistungen innerhalb eines Unternehmens nicht der Umsatzsteuer unterliegen. Diese Grundidee basiert darauf, dass es an der Selbständigkeit der eingegliederten Organgesellschaften fehlt, was der Gesetzeswortlaut der deutschen Regelung (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG) ausdrücklich so feststellt.
Im Jahr 2019 legte der BFH dem EuGH einmal mehr Fragen zur umsatzsteuerlichen Organschaft vor (BFH v. 11.12.2019 – XI R 16/18, DStR 2020, 645). Insbesondere ging es um Fragen zur finanziellen Eingliederung. Daneben fragte der BFH aber auch, ob man die deutschen Regelungen nicht auch - unabhängig von den Regelungen der Mehrwertsteuersystemrichtlinie zur sog. Mehrwertsteuergruppe - über das gesonderte Tatbestandsmerkmal der Selbständigkeit als richtlinienkonform ansehen könnte. Denn auch die Mehrwertsteuersystemrichtlinie stellt für die Steuerpflicht bzw. Steuerbarkeit maßgeblich auf die Selbständigkeit der Beteiligten ab.
Bei der Beantwortung dieser Frage führte der EuGH folgendes aus:
„Zur Klärung der Frage, ob ein solches Rechtsverhältnis [das zu einer Umsatzsteuerbarkeit führt] zwischen einem Mitglied einer Mehrwertsteuergruppe und den anderen Mitgliedern dieser Gruppe ein-schließlich ihres Organträgers besteht, so dass die von diesem Mitglied erbrachten Leistungen der Mehrwertsteuer unterliegen, ist zu untersuchen, ob dieses Mitglied einer selbständigen Wirtschaftstätigkeit nachgeht.“
Die bisherige Gewissheit, dass Innenumsätze innerhalb eines Organkreises nicht umsatz-steuerbar sind, war mit dieser Aussage dahin. Dabei ist es keineswegs so, dass der EuGH eindeutig die Steuerbarkeit von Innenumsätzen bejaht hätte. Vielmehr fehlt es an Kontext aus bisheriger Rechtsprechung, in den man diese Aussage des EuGH einordnen könnte. Es bleibt unklar, ob der EuGH überhaupt eine Aussage zur Steuerbarkeit von Innenumsätzen treffen wollte. Der EuGH griff insofern auch nicht die Ausführungen von Generalanwältin Medina auf, die sich - für den EuGH aber nicht bindend - zuvor für eine Steuerbarkeit von Innenumsätzen ausgesprochen hatte.
Es wäre für den BFH in dieser Situation wohl (theoretisch) auch möglich gewesen, die Aussage des EuGHs als missverständlich zu qualifizieren und zu unterstellen, dass der EuGH an einem jahrzehntelang anerkannten Grundsatz nicht lediglich in einem Nebensatz rütteln wollte. Aus verständlichen Gründen entschied sich der BFH jedoch dagegen und legte dem EuGH nunmehr die Frage vor, ob nach Auffassung des EuGH Innenumsätze umsatzsteuerbar sein sollen. Bemerkenswert ist, dass der vorlegende V. Senat seiner eigenen Beurteilung der Rechtsfrage die Bemerkung voranstellt, dass einiges dafür spreche, dass Innenumsätze - entgegen der bisherigen ständigen BFH-Rechtsprechung - steuerbar seien. Stark vereinfacht sind zwei Punkte für den BFH entscheidend. Erstens sei die Mehrwertsteuergruppe eine Verfahrensvereinfachung, die aber - zweitens - keine Steuerverluste erzeugen dürfe. Im Ergebnis scheint der BFH davon auszugehen, dass Innenumsätze im Ergebnis nur „nicht steuerbar“ behandelt werden könnten, wenn sich Umsatzsteuer und Vorsteuerabzug saldieren. Bei vorsteuerabzugsschädlichen Tätigkeiten im Organkreis wäre Umsatzsteuer geschuldet. Die Regelungen zur Organschaft würden sich insoweit darauf beschränken, dass der Organkreis nur eine Steuererklärung abgibt (so z.B. die Rechtslage in Spanien, s. L’habitant, UStB 2023, 157). Ob und inwieweit die umsatz-steuerliche Organschaft dann praxisrelevant bleibt, wäre abzuwarten.
Offener Ausgang des Vorlageverfahrens
Es scheint völlig offen, wie der EuGH die Vorlage des BFH beantworten wird. Schon verfahrensrechtlich könnte der EuGH die Zulässigkeit einer weiteren Vorlage ablehnen. Materiell-rechtlich spricht einerseits der Umstand, dass die Nicht-Steuerbarkeit von Innenumsätzen in der Vergangenheit nie Gegenstand von wesentlichen Kontroversen oder Ausführungen des EuGHs war, deutlich dagegen, dass der EuGH ein nicht nur in Deutschland anerkanntes Rechtsinstitut im Ergebnis abschaffen und betroffene Steuerpflichtige vor erhebliche Probleme stellen wird. Es gibt auch Indizien dafür, dass der EuGH selbst von der Nicht-Steuerbarkeit von Innenumsätzen ausgeht. Andererseits legt der Wortlaut der Formulierung „so dass die von diesem Mitglied [an ein anderes Mitglied der Mehrwertsteuergruppe] erbrachten Leistungen der Mehrwertsteuer unterliegen“ nahe, dass die Nicht-Steuerbarkeit eben keineswegs selbstverständlich ist. Naturgemäß gibt es bereits eine Vielzahl von lesenswerten Aufarbeitungen zu diesem Thema, die sich mit den Details der Fragestellung auseinander-setzen (nur beispielhaft: Nacke, NWB 2023, 2600; Monfort, UR 2023, 355; Tillmanns/Tsyganov, npoR 2023, 231; Brinkmann/Walter-Yadegardjam, DStR 2023, 1441; Luther/von Cölln, MwStR 2023, 674, auch zur Zulässigkeit eines zweiten Vorabentscheidngsersuchens in demselben Verfahren).
Zeitlich dürfte mit einer Entscheidung wohl frühestens Ende 2024, eher im Jahr 2025 zu rechnen sein, wenn man die zeitlichen Abläufe der von jüngeren Vorabentscheidungsersuchen des BFH zugrunde legt. Zuvor wird man ggf. aus Schlussanträgen eines Generalanwalts erste Folgerungen ziehen können.
Was ist zu tun?
Akuter Handlungsdruck für die Steuerpflichtigen dürfte aber nicht bestehen. Es erscheint jedenfalls nicht überwiegend wahrscheinlich, dass Innenumsätze zukünftig als steuerbar anzusehen sind. Sinnvolle Maßnahmen, die im Falle einer Änderung der Rechtslage den Schaden wesentlich reduzieren, sind bei genereller Betrachtung soweit nicht ersichtlich. Vorgeschlagen wird aber z.B., für Innenumsätze schon jetzt Rechnungen mit Umsatzsteuerausweis auszustellen, um ggf. von Rechnungsänderungen absehen zu können. Bei Innenumsätzen wird die ausgewiesene Umsatzsteuer nach geltender Rechtslage nicht geschuldet.
Betroffen wären bei einer Änderung der Rechtslage wohl alle nicht formell und materiell bestandskräftigen Veranlagungen. D.h., wenn eine Änderungsmöglichkeit besteht, könnte das Finanzamt dann eine geänderte Rechtslage in den Veranlagungen berücksichtigen. Da Umsatzsteuervoranmeldungen und -jahreserklärungen gemäß § 168 AO automatisch unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gemäß § 164 AO stehen, der regelmäßig erst nach Abschluss einer Betriebsprüfung oder nach Ablauf der Festsetzungsfrist (Regelfrist: vier Jahre) entfällt, würde die neue Rechtslage faktisch in erheblichem Maße zurückwirken. Allerdings dürfte die Änderungssperre des § 176 AO zu berücksichtigen sein, da es sich um eine Änderung der Rechtsprechung eines obersten Bundesgerichts handeln würde. Außerdem sprechen Vertrauensschutzgesichtspunkte im Hinblick auf das deutsche Recht und insbesondere die eindeutige Auffassung der deutschen Finanzverwaltung in Abschnitt 2.9. Umsatzsteuer-Anwendungserlass auch dafür, dass es im - dann günstigeren - deutschen Recht eine Übergangs- oder befristete Nichtbeanstandungsregelung geben würde.