Seit vielen Jahren ist das Thema Arbeitszeit im Allgemeinen und deren Erfassung im Besonderen Gegenstand zahlreicher juristischer Fachbeiträge und höchstrichterlicher Rechtsprechung. Nachdem der EuGH bereits im Jahre 2019 in einer viel beachteten Entscheidung festgestellt hat, dass die Mitgliedstaaten objektive und verlässliche Systeme zur Zeiterfassung einführen müssen, hat zuletzt das BAG – durchaus überraschend – im Beschluss vom 13. September 2022 (1 ABR 22/21) ausgeführt, dass Arbeitgeber aus Gründen des Arbeitsschutzes schon jetzt verpflichtet seien, die Arbeitszeit der Arbeitnehmer zu erfassen. Zu den Modalitäten der Erfassung hat es nichts gesagt.
Der Gesetzgeber hat sich über all die Jahre in Schweigen gehüllt. Spätestens seit der Entscheidung des BAG war es ihm aber nicht mehr möglich, untätig zu bleiben. Seit April liegt nun ein erster Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vor, der die Zeiterfassung zum Gegenstand hat.
I. Inhalt des Referentenentwurfes
Der Entwurf enthält ausschließlich Regelungen zur Zeiterfassung. Ansonsten bleibt das Arbeitszeitrecht unreformiert. Wesentlich sind folgende Vorgaben:
- Die zentrale Aussage ist in § 16 Abs. 2 ArbZG n.F. verortet. Danach ist der Arbeitgeber verpflichtet, Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer jeweils am Tag der Arbeitsleistung aufzuzeichnen und zwar elektronisch.
- Die elektronische Aufzeichnung ist also im Grundsatz verpflichtend. Die Wahl der Mittel soll nach der Gesetzesbegründung dem Arbeitgeber vorbehalten sein. Neben Apps auf mobilen Geräten wird auch die klassische Excel-Liste erwähnt. Außerdem soll die elektronische Auswertung von Dienstplanprogrammen zulässig sein (wenn dort auch die Ist-Zeit erfasst wird). Ausgesprochen bürokratisch und unpraktikabel, in manchen Berufen nicht umsetzbar ist die Vorgabe, dass die elektronische Erfassung am gleichen Tag und damit täglich erfolgen muss.
- Der Entwurf erlaubt die Delegation der Erfassung an den Arbeitnehmer oder Dritte (z.B. Vorgesetzte).
- Auch dann hat die Erfassung allerdings elektronisch zu erfolgen. Arbeitnehmer sind hierauf durch Weisung zu verpflichten. Im Zeitalter von Mobilarbeit und Vertrauensarbeitszeit dürfte dieser bürokratische Aufwand in der Regel ganz und gar nicht im Interesse der Arbeitnehmer sein.
- Überdies bleibt der Arbeitgeber ungeachtet der Delegation (vollumfänglich?) verpflichtet. Arbeitgeber und Organe sehen sich mithin der latenten Gefahr der Begehung von bußgeldbewährten Ordnungswidrigkeiten in jedem einzelnen Arbeitsverhältnis gegenüber, wobei offenbleibt, ob der Arbeitnehmer, auf den die Aufgabe zur Erfassung seiner Arbeitszeit delegiert wurde, ebenso ordnungswidrig und damit strafbewährt handelt, wenn er seine Arbeitszeit nicht, nicht am gleichen Tag, nicht elektronisch oder sonst wie nicht richtig erfasst.
- § 16 Abs. 4 ArbZG in der Fassung des Referentenentwurfes soll – ausweislich seiner Begründung – Vertrauensarbeitszeit ermöglichen. Dies soll dadurch geschehen, dass Arbeitnehmer ihre Arbeitszeit zwar täglich (elektronisch) erfassen, der Arbeitgeber aber auf eine Kontrolle der arbeitsvertraglich geschuldeten Arbeitszeit verzichtet.
- Unterm Strich erweist sich die Regelung als Mogelpackung. Denn die klassische Vertrauensarbeitszeit ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass Arbeitnehmer nicht jeden einzelnen Arbeitsbeitrag elektronisch erfassen müssen. Von diesem zeitgemäßen Instrument bleibt im Ergebnis nicht viel übrig, wenn der Arbeitgeber – wie es der Referentenentwurf vorsieht – zugleich unter Androhung von Bußgeldern verpflichtet bleibt, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass ihm Verstöße gegen das Gesetz bekannt werden. Denn verzichtet der Arbeitgeber auf die Überprüfung der Arbeitszeiten, bleibt kein bis wenig Spielraum für Maßnahmen, die sicherstellen, dass er von Verstößen gegen das Gesetz erfährt. Wohlgemerkt, ein Verstoß liegt schon vor, wenn ein Arbeitnehmer seine Arbeitszeit nicht mehr am gleichen Tag erfasst!
- Auf Verlangen ist der Arbeitnehmer durch den Arbeitgeber über die aufgezeichnete Arbeitszeit zu informieren. Dies hat durch Überlassung einer Kopie zu erfolgen. Zwar liegt hierin keine wesentliche Belastung des Arbeitgebers, da nach dem gesetzlichen Konzept die Daten ohnehin elektronisch vorliegen (müssen). Wünschenswert wäre aber eine zeitliche Beschränkung hinsichtlich Häufigkeit der Abfrage und Zeitraum, für den abgefragt wird. Unklar bleibt auch, wie es sich mit dem Auskunftsverlangen verhält, wenn der Arbeitnehmer durch Weisung an sich aufgefordert war, die Arbeitszeit höchst selbst zu erfassen. Klar ist aber auch: Die Darlegung von Überstunden wird für Arbeitnehmer im Rechtsstreit deutlich einfacher.
- § 16 Abs. 7 ArbZG in der Fassung des Referentenentwurfes sieht bestimmte Ausnahmen vor. Diese beschränken sich aber ausdrücklich auf Tarifverträge oder Betriebs-/Dienstvereinbarungen aufgrund eines Tarifvertrags. Zulässige Abweichungen sollen sein:
- Zeiterfassung in nicht-elektronischer Form
- Verzicht auf die tägliche Erfassung (mindestens aber wöchentlich)
- Ausnahme der Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung für bestimmte Berufsgruppen (z.B. Arbeitnehmer, die ihre Arbeitszeit selbst festlegen oder bei denen die gesamte Arbeitszeit tatsächlich nicht gemessen werden kann). Exemplarisch nennt die Gesetzesbegründung hier Führungskräfte, herausgehobener Experten oder Wissenschaftler.
- Außerdem erklärt der Referentenentwurf für jegliche Art von Verstößen gegen die Aufzeichnungspflicht sowie die Informationspflicht außerordentlich hohe Bußgeldandrohung i.H.v. bis zu EUR 30.000 je Verstoß.
- Schließlich sind Übergangsregelungen für kleinere Unternehmen (50/250 Arbeitnehmer) vorgesehen und Unternehmen mit in der Regel weniger als 10 Beschäftigten sind vom Geltungsbereich ausgenommen.
II. Bewertung
Der Referentenentwurf vermag nicht zu überzeugen. Arbeitgeber wie Arbeitnehmer werden mit Bürokratie belastet, vor allem aber latent in die Illegalität getrieben. Noch dazu gehen die Neuregelungen, die allein die Zeiterfassung zum Gegenstand haben, an den Bedürfnissen des Arbeitslebens – und insbesondere den Anforderungen an eine zunehmend digitale Arbeitswelt – vollkommen vorbei.
Relativierend ist anzumerken, dass es sich lediglich um einen ersten Referentenentwurf handelt. Schon nach wenigen Tagen sieht sich der Entwurf mit ganz erheblicher und berechtigter Kritik aus praktisch allen Lagern konfrontiert. Bis zu einem Gesetzesentwurf kann mit einigen „Überarbeitungsschleifen“ gerechnet werden. Schon jetzt ist aber zu attestieren, dass der Gesetzgeber mutlos agiert und allein die Zeiterfassung gesetzlich ausgestalten möchte. Gestaltungsspielräume, die ihm das europäische Recht durchaus bietet und die in der Literatur vielfach aufgezeigt worden sind, nutzt der Gesetzgeber nicht. Außerdem fällt auf, dass das längst antiquierte Arbeitszeitrecht im Übrigen völlig unverändert bleibt. So wurde aus der Praxis immer wieder insbesondere der Ruf nach mehr Flexibilität gerade im Hinblick auf den Rahmen der zulässigen täglichen Arbeitszeit (§ 3 ArbZG) und die Frage der Ruhezeiten nach § 5 Abs. 1 ArbZG laut. Auch die aufgezeigten Notwendigkeiten für Ausnahmen vom Geltungsbereich für Arbeitnehmer, die die Lage ihrer Arbeitszeit weitgehend freigestalten können und/oder überdurchschnittlich vergütet sind sowie für besondere Arbeitnehmergruppen sind gänzlich ignoriert. Statt die europarechtlich bestehenden und von anderen EU-Staaten genutzten Gestaltungsspielräume im Bereich des Arbeitszeitrechts zu nutzen und Flexibilität für Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu ermöglichen, wird mutlos nur weitere Bürokratie eingeführt. Erinnerungen an das Nachweisgesetz werden wach.
Es fällt auf, dass das Instrument der Vertrauensarbeitszeit – scheinbar – gesichert werden soll, in seinem Wesenskern aber ausgehöhlt wird. Die im Referentenentwurf vorgesehenen Regelungen sind insoweit untauglich. Im Grunde ist sie nur noch dadurch gekennzeichnet, dass der Arbeitgeber auf die Kontrolle der arbeitsvertraglich geschuldeten Arbeitszeit (die sich regelmäßig gar nicht mit der Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes deckt) verzichtet. Aber auch in anderen Arbeitsverhältnissen wird der Arbeitgeber wohl kaum tagtäglich die Arbeitszeit jedes einzelnen Arbeitnehmers überprüfen (können). Gleichwohl wird ihm für jedwedes Versäumnis mit Geldstrafe gedroht. Warum sollte die Geschäftsleitung dieses (persönliche) Risiko eingehen? Dann doch Verzicht auf Vertrauensarbeitszeit und Aufzeichnung sämtlicher Arbeitszeiten! Insoweit lebt – jedenfalls nach dem Referentenentwurf – die Vertrauensarbeitszeit nur auf dem Papier weiter.
An den Bedürfnissen des Arbeitslebens vorbei geht auch die Regelung zu Ausnahmeregelungen. Erleichterungen in puncto Form und Häufigkeit der Erfassung soll es nur auf Grundlage von Tarifverträgen gegeben. Damit laufen in der Praxis die Erleichterungen vielfach ins Leere. Zum einen bedarf es stets eines Tarifvertrags (und Zugeständnisse der Gewerkschaft müssen in der Regel erkauft werden). Zum anderen sind all die Unternehmen ohne Tarifbindung von Vornherein – verfassungsrechtlich bedenklich! - von der Option, Ausnahmen zu schaffen, ausgeschlossen. Hieraus folgt zugleich, dass die Erleichterung für bestimmte Berufsgruppen de facto zum Scheitern verurteilt ist. Denn die in der Gesetzesbegründung genannten Personengruppen (Spezialisten, Führungskräfte usw.) dürften in den seltensten Fällen in den Geltungsbereich eines Tarifvertrages fallen. Der Gesetzesentwurf regelt also – an sich völlig zu Recht – bewusst eine Bereichsausnahme für bestimmte Personen. Zugleich sieht er hierfür Voraussetzungen vor, die sich in aller Regel nicht erfüllen lassen. Somit ist die Öffnungsklausel ohne echten Anwendungsbereich und praktisch wertlos.
Klargestellt ist immerhin, dass (echte) leitende Angestellte nicht von der Erfassungspflicht betroffen sind, denn für diese gilt das Arbeitszeitgesetz ohnehin nicht (§ 18 Abs. 1 Nr. 1 ArbZG). Offen bleibt, ob für sie – wie für andere Beschäftigte, die nicht unter das ArbZG fallen, eine Aufzeichnungspflicht nach § 3 Abs. 2 Arbeitsschutzgesetz verbleibt, wie sie das BAG aktuell hergeleitet hat.
Die Öffnungsklausel ist auch in weiterer Hinsicht nicht zu Ende gedacht. Denn die Kirchen und deren Verbände zählen zu den größten Arbeitgebern in Deutschland. Diese wenden aber keine Tarifverträge an, sondern ihre eigenen Regelungen im Wege des sogenannten Dritten Weges. Auf Grundlage solcher Regelungen (z.B. AVR, MAVO, MVG) soll aber keine Öffnung möglich sein. Diese Lücke bedarf dringend der Korrektur, zumal Kirchenregelungen an anderer Stelle ausdrücklich erwähnt werden (§ 7 Abs. 4 ArbZG). Auch im Nachweisgesetz haben kirchliche Regelungen jüngst eine Aufwertung erfahren.
Es fällt auf, dass die Neuregelungen solchen Bereichen entlehnt worden sind, in denen ist schon jetzt eine Verpflichtung zur Zeiterfassung gibt, nämlich im Bereich des Niedriglohnsektors (Mindestlohngesetz) und im Bereich der Fleischwirtschaft. Strenge Regelungen haben hier aus sozialen Gründen durchaus ihre Berechtigung. Es ist aber völlig verfehlt, solch restriktive Regelungen nun als Maßstab für alle anderen Arbeitsverhältnisse zu nehmen. So dürfte es beispielsweise für eine hochqualifizierte und hochbezahlte IT-Fachkraft, die selbstbestimmt und mobil tätig ist, eine schwer zumutbare Belastung darstellen, jeden Arbeitsbeitrag gesondert elektronisch zu erfassen. Hier hat der Gesetzgeber die Chance vertan, das Arbeitszeitrecht umfassend an die Realität anzupassen.
Die weiteren Entwicklungen müssen abgewartet werden. Es bleibt zu hoffen, dass ein stark verbesserter Entwurf den Weg in die parlamentarische Abstimmung findet.