Vereinbart ein Insolvenzverwalter mit dem Betriebsrat über eine geplante Betriebsänderung einen Interessensausgleich mit Namensliste, wird gemäß § 125 Abs. 1 Nr. 1 InsO vermutet, dass die Kündigung der in der Namensliste aufgeführten Arbeitnehmer durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt ist. Das Bundesarbeitsgericht setzte sich in seinem Urteil vom 17. August 2023 mit der Frage auseinander, unter welchen Voraussetzungen diese Vermutungswirkung überhaupt greift (6 AZR 56/23). Dabei revidierte es die Ansicht der Vorinstanz.
Sachverhalt
Der Kläger war bei der Insolvenzschuldnerin, einem Unternehmen der Herstellung und des Vertriebs von Spezialprofilen aus Stahl und Stahlerzeugnissen mit ca. 400 Arbeitnehmern, tätig.
Der beklagte Insolvenzverwalter vereinbarte mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich über die Stilllegung des Betriebes nach Durchführung einer Ausproduktion. Danach sollte ein Teil der Belegschaft umgehend zum nächstmöglichen Zeitpunkt gekündigt werden. Die übrigen Arbeitnehmer sollten noch für die Ausproduktion weiterbeschäftigt und daher erst zu einem entsprechend späteren Zeitpunkt gekündigt werden. Hierzu enthielt der Interessenausgleich verschiedene Namenslisten. Der Kläger war auf der Liste genannt, welche das für die Ausproduktion benötigte und daher erst zum späteren Zeitpunkt zu kündigende Team beinhaltete. Nach Unterzeichnung des Interessenausgleichs kündigte der Insolvenzverwalter das Arbeitsverhältnis des Klägers im Juni 2020 mit Wirkung zum 31. Mai 2021. Der Kläger erhob Kündigungsschutzklage. Nach Ausspruch der Kündigungen führte der Insolvenzverwalter mit interessierten Investoren Verhandlungen über eine Übernahme des Betriebes. Letztlich gelang es ihm, den Betrieb auf einen Investor zu übertragen und somit die Stilllegung (doch noch) zu vermeiden.
Entscheidung des Landarbeitsgerichts
Das Landesarbeitsgericht Hamm hielt die Kündigungen für unwirksam. Der Insolvenzverwalter könne sich nicht auf die Vermutungswirkung des § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 InsO berufen: Hierfür genüge nicht allein der Abschluss eines Interessenausgleichs mit Namensliste, sondern es müssten die objektiven Voraussetzungen einer geplanten Betriebsänderung gem. § 111 BetrVG vorliegen und dies müsse vom Insolvenzverwalter nachgewiesen werden.
Dazu sei erforderlich, dass zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung die Stilllegung des ganzen Betriebs „ernstlich und endgültig geplant und bereits eingeleitet“ war. Die Umsetzung der Betriebsstilllegung müsse zu diesem Zeitpunkt schon „greifbare Formen“ angenommen haben.
Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts
Diesem (engen) Verständnis von § 125 InsO ist das Bundesarbeitsgericht nun entgegengetreten. Für das Eingreifen der Vermutungswirkung aus § 125 Abs. 1 Nr. 1 InsO sei es vielmehr ausreichend, wenn sich die Betriebsänderung bei Abschluss des Interessenausgleichs noch in der „Planungsphase“ befinde. Der Insolvenzverwalter müsse daher nicht darlegen und beweisen, dass er die Stilllegung bereits tatsächlich eingeleitet hat, sondern es genüge, dass er eine Stilllegung geplant hat. Dies ergebe sich daraus, dass der Abschluss des Interessenausgleichs zu einem Zeitpunkt erfolgen müsse, zu welchem der Betriebsrat auf die unternehmerische Entscheidung noch Einfluss nehmen könne. Dies sei nur im Planungsstadium der Fall, nicht aber, wenn mit der Umsetzung bereits begonnen sei.
Die an den Abschluss des Interessenausgleichs „mit Namensliste“ geknüpfte Vermutungswirkung könne daher konsequenterweise nicht mehr als eine Planung voraussetzen. Da der Insolvenzverwalter habe nachweisen können, eine Betriebsänderung in Gestalt der Stilllegung des Betriebes geplant und hierüber den Interessenausgleich abgeschlossen zu haben, werde gesetzlich vermutet, dass die Kündigung durchdringende betriebliche Erfordernisse bedingt ist. Diese Vermutungswirkung habe der Kläger nicht widerlegt. Die spätere Entwicklung, während derer der Insolvenzverwalter den Betrieb doch noch veräußert hatte, stehe dem nicht entgegen. Für die Beurteilung der Wirksamkeit einer Kündigung sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts die Umstände zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung maßgeblich.
Bewertung
Die vorliegende Pressemitteilung belegt, dass das Bundesarbeitsgericht die überzogenen Anforderungen, die das Landesarbeitsgericht an die Voraussetzungen von § 125 InsO gestellt hatte, erfreulicherweise korrigiert. Die Erfurter Richter betonen damit den Zweck der Regelung des § 125 InsO, der es den Betriebsparteien im Insolvenzverfahren ermöglichen soll, unter erleichterten Bedingungen rechtssichere Entlassungen im Rahmen einer Betriebsänderung durchzuführen. Der Kündigungsgrund – hier: die Stilllegung des Betriebes – wird dabei gesetzlich vermutet, wenn ein Interessenausgleich mit Namensliste abgeschlossen wird. Der Betriebsrat, der zur Vereinbarung einer Namensliste nicht gezwungen werden kann, wird dem Abschluss nur dann zustimmen, wenn auch aus seiner Sicht eine solche Betriebsänderung tatsächlich vorgesehen und nicht vermeidbar ist. Stimmen Insolvenzverwalter und Betriebsrat in dieser Bewertung überein, soll – sofern begrifflich die Voraussetzungen einer „geplanten Betriebsänderung“ erfüllt sind – die Vermutungswirkung eingreifen. Die Anforderungen des Landesarbeitsgerichts hätten dies zum Teil ad absurdum geführt, da der Insolvenzverwalter gerade dasjenige hätte darlegen und beweisen sollen, was gem. § 125 InsO gerade gesetzlich vermutet wird.
Obschon die Entscheidung zu einem Fall „in der Insolvenz“ und zu der nur dort geltenden Vorschrift des § 125 InsO ergangen ist, dürften die Ausführungen auch auf Fälle einer Namensliste „außerhalb der Insolvenz“ zu übertragen sein. Denn auch dann ist ein Interessenausgleich im „Planungsstadium“ abzuschließen, d.h. auch außerhalb der Insolvenz muss es u.E. ausreichend sein, dass der Arbeitgeber nach Abschluss eines Interessenausgleichs mit Namensliste eine entsprechende Planung nachweisen kann, nicht jedoch bereits den Beginn ihrer Umsetzung nachzuweisen hat.