Nachdem der EuGH mit Urteilen vom 22. September 2022 über den Verfall (Az.: C-727/20 und C-518/20) und die Verjährung (Az.: C-120/21) von Urlaubsansprüchen, hinsichtlich derer der Arbeitgeber seinen Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen ist, entschieden hat, war nunmehr das BAG aufgefordert, die entsprechenden Vorgaben des EuGH umzusetzen. Am 20. Dezember 2022 entschied das BAG über die zugrundeliegenden Verfahren (Pressemitteilung 47/22 und 48/22). Hierbei kam es zu keinen Überraschungen, wohl aber zu hilfreichen Konkretisierungen der brisanten EuGH-Entscheidungen. Gleichwohl stellen sich im Anschluss weitere Fragen, die erst die Praxis beantworten wird.
Ausgangslage
Die erste Entscheidung des BAG (Az.: 9 AZR 245/19) handelte von einem angestellten Frachtfahrer, der seit dem Jahr 2000 für seinen Arbeitgeber tätig war und seit dem 1.12.2014 Rente wegen voller Erwerbsminderung bezog. Er machte 34 Urlaubstage aus dem Jahr 2014 geltend, auf die er von seinem Arbeitgeber nicht hingewiesen worden war. Die zweite Entscheidung (Az.: 9 AZR 266/20) bezog sich auf eine Arbeitnehmerin, die bei ihrem Arbeitgeber von November 1996 bis Juli 2017 beschäftigt war. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses verlangte sie von ihrem Arbeitgeber für die von ihr im Jahr 2017 und in den Vorjahren nicht genommenen 101 Urlaubstage Urlaubsabgeltung.
In beiden Fällen ersuchte das BAG den EuGH zur Klärung der aufgeworfenen Rechtsfragen und legte die Sachen zur Vorabentscheidung vor. In der Tat waren Urlaubsansprüche bereits in den vergangenen Jahren immer wieder Gegenstand von Vorabentscheidungsverfahren. Zunächst hatte der EuGH im Jahr 2011 (Urt. v. 22.11.2011 – C-214/10) entschieden, dass Urlaubsansprüche nicht zweckwidrig angesammelt werden dürfen und daher auch bei arbeitsunfähigen Arbeitnehmern ein Übertragungszeitraum von 15 Monaten und dem anschließenden Verfall von Urlaubsansprüchen – wie es § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG vorsieht – nicht gegen Unionsrecht verstoße. Im Jahr 2018 (Urt. v. 06.11.2018 – C-684/16) sorgte der EuGH aber für Aufruhr, als er Arbeitgebern weitreichende Hinweis- und Mitwirkungsobliegenheiten bei der Geltendmachung der Urlaubsansprüche durch die Arbeitnehmer zuschrieb und einen Verfall von Urlaubsansprüchen ablehnte, wenn diesen Obliegenheiten nicht nachgekommen wurde. Nunmehr war der EuGH damit befasst, in den jüngst vorgelegten Verfahren abermals zwischen dem arbeitgeberseitigen Schutz vor zweckwidriger Ansammlung von Urlaubsansprüchen und dem Arbeitnehmerinteresse an einer tatsächlichen Gewährung von Urlaub auch im Falle einer Arbeitsunfähigkeit zu entscheiden.
Der EuGH räumte letzterem Interesse den Vorrang ein und stellte sich auf den Standpunkt, dass Arbeitnehmer, die im Jahr ihrer eintretenden Arbeitsunfähigkeit noch bestehende Urlaubsansprüche hatten, auf die der Arbeitgeber zuvor nicht hingewiesen hat, diese Ansprüche auch über einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten hinaus nicht verlieren. Fehlt es an einem Hinweis des Arbeitgebers, bestehen diese Ansprüche vielmehr fort. Auch ein etwaiger Abgeltungsanspruch könne dann nicht verjähren, wenn der Arbeitgeber seinen Hinweis- und Mitwirkungsobliegenheiten nicht nachkommt. Die Regelung des § 195 BGB stehe dem nicht entgegen.
Entscheidungen des BAG vom 20. Dezember 2022 – 9 AZR 245/19 und 9 AZR 266/20
Wie erwartet, folgte das BAG den vom EuGH vorgegebenen Ausführungen zum Verfall und zur Verjährung von Urlaubsansprüchen bei unterlassener Aufklärung durch den Arbeitgeber. Das BAG entschied, dass der Anspruch auf gesetzlichen Mindesturlaub aus einem Urlaubsjahr, in dem der Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet hat, bevor er aus gesundheitlichen Gründen an der Inanspruchnahme seines Urlaubs gehindert war, regelmäßig nur dann nach Ablauf eines Übertragungszeitraums von 15 Monaten verfalle, wenn der Arbeitgeber ihn rechtzeitig in die Lage versetzt hat, seinen Urlaub in Anspruch zu nehmen. Dies folge aus einer richtlinienkonformen Auslegung des § 7 Abs. 1 und Abs. 3 BUrlG.
In Bezug auf die Verjährung von Urlaubsansprüchen kam das BAG den Vorgaben des EuGH ebenfalls nach. Der gesetzliche Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub unterliege der gesetzlichen Verjährung. Allerdings beginne die dreijährige Verjährungsfrist erst am Ende des Kalenderjahres, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über seinen konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallfristen belehrt und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat.
Rechtlicher Hintergrund
Anknüpfungspunkt für die jüngsten Entscheidungen des EuGH waren Art. 7 der EU-Richtlinie 2003/88, wonach die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen zu treffen haben, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen erhält, sowie Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der das arbeitnehmerseitige Recht auf bezahlten Jahresurlaub verankert. Hieraus folgt für das BAG nun das Postulat zu einer unionskonformen Auslegung von § 7 BUrlG dahingehend, dass der Anspruch auf Urlaub nur dann erlischt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor in die Lage versetzt hat, seinen Urlaub wahrzunehmen. Bereits mit seinem Urteil vom 19. Februar 2019 (Az: 9 AZR 423/16) hat das BAG diese Vorgaben näher ausgestaltet und bestimmt, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor konkret aufgefordert haben muss, den Urlaub zu nehmen, und ihn klar und rechtzeitig darauf hingewiesen haben muss, dass der Urlaub anderenfalls mit Ablauf des Urlaubsjahres oder des Übertragungszeitraumes erlischt. Werden diese Mitwirkungsobliegenheiten verletzt, verfällt der gesetzliche Urlaubsanspruch nicht für das Jahr, in dem ein erwerbsgeminderter oder langzeiterkrankter Arbeitnehmer arbeitsunfähig wurde. Er kann dann auch nicht nach Maßgabe der gesetzlichen Regelungen verjähren. Das Gericht stützt dies auf eine unionsrechtskonforme Auslegung von § 199 Abs. 1 BGB.
Praxishinweise
Die Entscheidungen des EuGH in Bezug auf die Reichweite und Rechtsfolgen der Arbeitgeber obliegenden Hinweis- und Mitwirkungsobliegenheiten sind auf berechtigte Kritik gestoßen. Der Verfall von Urlaubsansprüchen wird auch im Falle dauerhafter Erkrankungen erheblich eingeschränkt. Dies führt dazu, dass Arbeitnehmer Urlaub anhäufen können, um diesen dann über einen längeren Zeitraum am Stück geltend zu machen. Dies kann nicht nur für die Arbeitsorganisation des Arbeitgebers schädigend sein. Vor allem widerspricht es dem Zweck des Erholungsurlaubs, diesen in regelmäßig, kalenderjährlichen Zeitabschnitten zu nehmen und nicht über einen langen Zeitraum aufzusparen. Durch die fehlende Verjährung kann unter Umständen sogar ein finanzieller Anreiz für Arbeitnehmer geschaffen werden, auf die tatsächliche Geltendmachung von Urlaubstagen zu verzichten, wenn sie nicht durch ihren Arbeitgeber auf bestehende Resturlaubstage hingewiesen worden sind.
Der EuGH rechtfertigt dies damit, dass der Arbeitnehmer stets in die Lage versetzt werden muss, seinen Urlaub tatsächlich zu nehmen. Ohnehin werde ja nur der Urlaubsanspruch des Bezugszeitraums übertragen, in dem die Arbeitsunfähigkeit eingetreten sei. Urlaubsansprüche, die während der Arbeitsunfähigkeit erworben werden, können auch durch einen Hinweis des Arbeitgebers nicht genommen werden und verfallen daher nach wie vor nach Ablauf von 15 Monaten ab Ende des Urlaubsjahrs, ohne dass es auf eine Mitwirkungshandlung des Arbeitgebers ankommt. Damit bestehe nicht die Gefahr einer unbeschränkten Ansammlung von Ansprüchen auf bezahlten Urlaub. Dies stellt auch das BAG in seiner Entscheidung klar.
Gerade diese Unterscheidung macht aber deutlich, dass die neue Leitlinie hinsichtlich des Verfalls von Urlaubsansprüchen inkonsequent ist. Wenn solche Ansprüche, die während der Arbeitsunfähigkeit entstehen, regulär nach dem Übertragungszeitraum von § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG entfallen können, müsste dies auch für Urlaubsansprüche gelten, die noch vor dem Eintritt der Arbeitsunfähigkeit entstanden sind, aber auch mit einem Hinweis des Arbeitgebers nicht mehr genommen werden konnten. Es stellt sich ein Kausalitätsproblem, das der EuGH beiseite wischt.
Das BAG musste diesen Vorgaben folgen. Dennoch erscheint es befremdlich, das Verlangen nach Rechtssicherheit, das § 195 BGB schützen möchte, in den Hintergrund zu stellen. Das Gericht scheint den Beginn der Verjährung auf § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB zu stützen, ohne dass es auf eine positive Kenntnis tatsächlich ankommt.
Für die Praxis bedeutet dies, dass Arbeitgeber ihre Mitarbeiter stets „klar und rechtzeitig“ auf den drohenden Verfall von Urlaub hinzuweisen haben. Im Hinblick auf eine etwaige Darlegungs- und Beweislast äußerte sich das BAG (noch) nicht. Arbeitgeber sind aber schon jetzt gut beraten, diesen Hinweis zu dokumentieren. Soweit Arbeitnehmern über den gesetzlichen Mindesturlaub ein vertraglicher Zusatzurlaub gewährt wird, sollte der Verfall dahingehend arbeitsvertraglich geregelt werden. Das BAG hat bereits klargestellt, dass es möglich ist, den vertraglichen Urlaubsanspruch unabhängig von einer Hinweispflicht verfallen zu lassen – wenn für einen solchen Regelungswillen „deutliche Anhaltspunkte“ in der Verfallsklausel stecken. Wann insbesondere Klauseln aus Altverträgen diese Anforderungen erfüllen, bleibt abzuwarten.