Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bei Verstößen gegen die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie

Schwerin, 23.11.2023

Problemaufriss

In Deutschland werden jährlich etwa 77 Mio. Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausgestellt. Sie sind das wichtigste Beweismittel für das Vorliegen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit und beinhalten einen hohen Beweiswert. Um diesen zu erschüttern muss, der Arbeitgeber tatsächliche Umstände nachweisen, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben, sodass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukommt. Wie hoch die Anforderungen an eine solche Erschütterung zu stellen sind wird in der Literatur umfassend diskutiert und war bereits Inhalt einiger höchstrichterlicher Entscheidungen. 

In einer aktuellen Entscheidung vom 28.06.2023 - 5 AZR 335/22 setzt sich das Bundesarbeitsgericht damit auseinander, wie sich Verstöße gegen die „Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB V“ (im Folgenden: Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie) hierauf auswirken. 

Anwendbarkeit der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie

Zunächst stellte das Bundesarbeitsgericht fest, dass die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses nur für die Träger des Gemeinsamen Bundesausschusses, deren Mitglieder und Mitgliedskassen sowie für die Versicherten und die Leistungserbringer unmittelbar gelten, nicht jedoch für den Arbeitgeber und den Arbeitnehmer als Parteien des Arbeitsverhältnisses. Insbesondere formale Vorgaben, wie Formulare und Angaben für die Abrechnung, sind für die Beweiskraft einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung demnach ohne Belang. 

Einige Bestimmungen enthalten jedoch eine Zusammenfassung allgemeiner medizinischer Erfahrungsregeln und Grundregeln zur validen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit. So verstanden können Verstöße hiergegen geeignet sein, den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im Rahmen der nach § 286 ZPO vorzunehmenden Beweiswürdigung zu erschüttern. Dies gilt insbesondere für § 4 und § 5 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie, welche sich mit der sicheren medizinischen Feststellbarkeit der Arbeitsunfähigkeit befassen. Einen relevanten Ansatzpunkt kann dabei auch die von Ärzten häufiger vorgenommene rückwirkende Krankschreibung bieten. Gemäß 5 Abs. 3 Satz 1 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie sollen Arbeitsunfähigkeitszeiten nur im Ausnahmefall und nach gewissenhafter Prüfung sowie maximal für einen Zeitraum von 3 Tagen rückwirkend attestiert werden. In solchen Fällen – besonders aber bei Überschreitung des 3-Tageszeitraumes – kann sich mithin ein Ansatz zur Überprüfung des Vorliegens der Arbeitsunfähigkeit zum attestierten Arbeitsunfähigkeitsbeginn ergeben (vgl. BAG 23.06.2009-2 AZR 532/08).

Anforderungen des § 5 Abs. 1 Satz 4 Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie

Besonders hervorzuheben ist nach dieser Entscheidung der § 5 Abs. 1 Satz 4 Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie. Nach diesem müssen Symptome spätestens innerhalb von 7 Tagen durch eine Diagnose ersetzt werden. Schreibt ein Arzt wegen Fieber oder Übelkeit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung von über 7 Tagen, gilt ihre Beweis-kraft demnach als von Anfang an erschüttert. Die Diagnose fordere allerdings nicht, dass der Arzt ab der zweiten Woche der Arbeitsunfähigkeit bereits konkrete Schmerzursachen attestiere. Die Feststellung von Gelenkschmerzen in der Schulter sei anders als Fieber oder Übelkeit bereits eine ausreichende Diagnose.

Der Anwendbarkeit von § 5 Abs. 1 Satz 4 Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie steht auch nicht entgegen, dass der Arbeitnehmer nicht verpflichtet ist im Rahmen des § 5 Abs. 1 EFZG Angaben zur Art und Ursache der Arbeitsunfähigkeit zu machen. Macht er neben den verpflichteten schriftlichen Angaben über das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer freiwillige Angaben über die Ursache, können diese zur Erschütterung der Beweiskraft verwendet werden.

Weitere Erschütterungs­einwände

Zudem bestätigt die Entscheidung aufs Neue die hohe Beweiskraft einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Der zeitliche Zusammenhang einer Arbeitsunfähigkeit mit der Kündigungsfrist reiche demnach für sich nicht aus, um die Beweiskraft zu erschüttern. Auch der Einwand, Gelenkschmerzen in der Schulter führen nicht zur Arbeitsunfähigkeit als Sachbearbeiter, wurde abgewiesen und ein eigenes Verschulden des Arbeitnehmers im Rahmen von Fitnesstraining sei ebenfalls fernliegend. 

Die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweis-mittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Daher wird ihr von der Rechtsprechung ein entsprechend hoher Beweiswert zugebilligt, wodurch die Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als Beweismittel nur sehr schwer zu erschüttern ist.

Praxistipps

Aus der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts geht hervor, dass auch die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinien als allgemeine medizinische Erfahrungsregeln dazu dienen können die Beweiskraft einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu er-schüttern. Insbesondere wenn sich ein Arbeitnehmer allein aufgrund von Symptomen wie Fieber oder Übelkeit für länger als 7 Tage krankschreiben lässt, kann die fehlende Diagnose zur Erschütterung der Beweiskraft mit herangezogen werden. Eine Diagnose wie Schmerzen in der Schulter fordere allerdings weitergehend kein Attest der konkreten Schmerzursache. Einen weiteren Ansatz bieten rückwirkend ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen.

Außerdem zeigt die Entscheidung auch erneut die hohe Beweiskraft einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und dass es mehr als eines zeitlichen Zusammenhanges mit der Kündigungsfrist oder Zweifel des Arbeitgebers benötigt um diese zu erschüttern.

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