Das Bundesministerium der Justiz hat am 9. Februar 2022 den Entwurf eines „Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften“ vorgelegt. Die Möglichkeit zur Abhaltung einer virtuellen Hauptversammlung, die der Bundestag im Jahr 2020 aufgrund der COVID-19-Pandemie geschaffen hat, soll jetzt dauerhaft im Aktiengesetz verankert werden (zur geltenden Rechtslage s. bereits die GÖRG Legal Updates vom 24. März 2020, 29. Januar 2021 und 11. Oktober 2021).
Nach dem vorliegenden Referentenentwurf sind dafür umfassende Regelungen vorgesehen, die nachfolgend überblicksmäßig dargestellt werden.
Inhalt des Referentenentwurfs
Hintergrund und Zielsetzung
Der Referentenentwurf verstetigt einen Teil der Regeln, setzt dabei die (überwiegend positiven) Erfahrungen der vergangenen zwei von der Pandemie geprägten Hauptversammlungs-Saisons um und entwickelt die pandemischen „Sonderregeln“ für die Abhaltung von virtuellen Hauptversammlungen fort (vgl. RefE, S. 11 ff.). Gleichzeitig sollen die Aktionärsrechte wieder gestärkt werden, um die virtuelle HV der Präsenz-HV anzugleichen. Hierbei soll ein Ausgleich zwischen den Aktionärsrechten und dem Interesse des Unternehmens an einer kostengünstigen und entzerrten Hauptversammlung gefunden werden (RefE S. 11 ff.).
Satzungsermächtigung und Voraussetzungen
Als zentrales Instrument des Referentenentwurfs ist in § 118a AktG-RefE die virtuelle Hauptversammlung vorgesehen. Sie soll eine gleichwertige Alternative zur Präsenz- und zur hybriden Hauptversammlung darstellen (RefE S. 13 ff.). Eine virtuelle Hauptversammlung soll jedoch nur dann möglich sein, wenn die Satzung sie vorsieht oder der Vorstand durch eine Satzungsregelung hierzu ermächtigt wird. Die Satzungsermächtigung ist dabei auf maximal fünf Jahre zu befristen, § 118a Abs. 1, Abs. 4 und Abs. 5 AktG-RefE; d.h. die Aktionäre müssen im Turnus von maximal fünf Jahren darüber entscheiden, ob auch künftig eine virtuelle Hauptversammlung möglich sein soll.
Eine virtuelle Hauptversammlung liegt nach der Legaldefinition des Entwurfs in § 118a Abs. 1 S. 1 AktG-RefE vor, wenn die Versammlung ohne physische Präsenz der Aktionäre oder ihrer Bevollmächtigten am Ort der Hauptversammlung stattfindet.
Hierbei sind nach § 118a Abs. 1 S. 2 AktG-RefE folgende acht kumulative Voraussetzungen einzuhalten:
(i) die gesamte Versammlung muss mit Bild und Ton übertragen werden,
(ii) die Stimmrechtsausübung muss im Wege elektronischer Kommunikation oder Vollmachtserteilung möglich sein,
(iii) Aktionäre müssen Anträge, die keine Gegenanträge i.S.d. § 126 AktG sind, im Wege der elektronischen Kommunikation in der Versammlung stellen können,
(iv) die Aktionäre haben ein Auskunftsrecht nach § 131 AktG-RefE im Wege der elektronischen Kommunikation,
(v) der Bericht des Vorstands oder dessen wesentlicher Inhalt muss den Aktionären sechs Tage vor der Versammlung zugänglich gemacht werden,
(vi) die Aktionäre haben das Recht, Stellungnahmen i.S.d. § 130a Abs. 1 bis 3 und 8 AktG-RefE im Wege der elektronischen Kommunikation einzureichen,
(vii) den Aktionären muss eine Redemöglichkeit im Wege der Videokommunikation i.S.d. § 130a Abs. 4 bis 8 AktG-RefE eingeräumt werden und
(viii) den Aktionären muss eine Möglichkeit zum Widerspruch gegen einen Beschluss im Wege der elektronischen Kommunikation eingeräumt werden.
Stellungnahmen, Redemöglichkeit und Fragerecht der Aktionäre, §§ 130a, 131 AktG-RefE
Der Referentenentwurf sieht auch vor, dass Aktionäre spätestens vier Tage vor der Versammlung Stellungnahmen zu Tagesordnungspunkten im Wege der elektronischen Kommunikation einreichen können müssen. Diese sind allen Aktionären – bei börsennotierten Gesellschaften über die Internetseite der Gesellschaft – zugänglich zu machen, vgl. § 130a Abs. 1 bis 3 AktG-RefE.
Daneben sollen Aktionären, die spätestens vier Tage vor der Versammlung einen Redebeitrag anmelden, eine Redemöglichkeit in der Versammlung per Videoübertragungskommunikation erhalten; es soll nicht nur ein vorab aufgezeichnetes Video abgespielt werden, sondern die Aktionäre müssen sich über eine „Zwei-Wege-Kommunikation“ direkt in der HV zuschalten können. Die Anmeldungen zu Redebeiträgen werden (bis zu einer in der Einberufung festlegbaren Anzahl) nach der zeitlichen Reihenfolge ihres Eingangs zugelassen, wobei der Versammlungsleiter die Reihenfolge der Redebeiträge in der Versammlung festlegen kann, § 130a Abs. 4 bis 6 und Abs. 8 AktG-RefE. Die Redebeiträge dürfen keine Fragen oder Nachfragen enthalten, § 130a Abs. 7 AktG-RefE.
Für Fragen und Nachfragen sieht § 131 Abs. 1a bis 1d AktG-RefE neue Regelungen vor. Hatte das GesRuaCovBekG ursprünglich vorgesehen, dass der Vorstand nach pflichtgemäßem freiem Ermessen über die Beantwortung von Fragen entscheidet, wurde bereits für die HV-Saison 2021 ein Fragerecht eingeführt, bei dem sich das Ermessen des Vorstands nur noch auf das „Wie“ und nicht mehr das „Ob“ der Beantwortung erstreckte. Der Referentenentwurf stärkt die Aktionärsrechte nunmehr weiter. Der Vorstand soll in der Einberufung vorsehen können, dass nur solche Fragen beantwortet werden, die spätestens vier volle Tage vor der Versammlung im Wege der elektronischen Kommunikation durch ordnungsgemäß angemeldete Aktionäre eingereicht werden können. Der Umfang der Einreichung von Fragen soll dabei „angemessen“ beschränkt werden können, wobei im Einzelfall zur Gewährleistung eines angemessenen Zeitrahmens der Versammlung sowohl eine Zeichen- als auch eine Fragenanzahlbeschränkung in Betracht kommt (vgl. RefE S. 36). Fristgerecht eingereichte Fragen sind dabei aus Transparenzgründen allen Aktionäre bekanntzumachen. Gleiches gilt für ggf. eingereichte Redebeiträge. Auch steht den Aktionären nach Beantwortung ihrer vorab eingereichten Fragen ein Nachfragerecht zu. Fragen, die nicht rechtzeitig eingereicht wurden und nicht als Nachfrage gelten, werden nicht beantwortet, § 131 Abs. 1a bis 1d AktG-RefE.
Dass erst kurz vor der Versammlung auftretende Fragen (z.B. wegen einer Ad-hoc-Mitteilung nach Art. 17 MAR) nicht mehr gestellt werden können, erscheint allerdings problematisch.
Klarheit besteht künftig auch bei der Fristberechnung für die Frageneinreichung, da ausdrücklich auf § 121 Abs. 7 AktG verwiesen wird; gleiches gilt für Stellungnahmen und Redebeiträge.
Einberufung, Ort der Versammlung, Antragsfiktion und weitere Änderungen
Nach der Vorstellung des Referentenentwurfs soll die Einberufung zur virtuellen Hauptversammlung wieder mit der – vor der Pandemie schon geltenden – Einberufungsfrist von dreißig Tagen erfolgen, § 123 Abs. 1 S. 1 AktG. Dabei soll die Einberufung zur virtuellen Hauptversammlung anstelle des Ortes der Versammlung angeben, wie sich Aktionäre oder ihre Bevollmächtigten zuschalten können. Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass eine physische Präsenz am Ort der Versammlung ausgeschlossen ist, § 121 Abs. 4b, Abs. 5 S. 3 AktG-RefE.
Lediglich die Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrates sowie der Versammlungsleiter und ggfs. der Abschlussprüfer müssen grundsätzlich am „Ort der Hauptversammlung“ teilnehmen. Mitglieder des Aufsichtsrates können allerdings unter bestimmten Voraussetzungen auch nur virtuell teilnehmen. Ein von der Gesellschaft benannter Stimmrechtsvertreter kann ebenfalls in Präsenz teilnehmen, § 118a Abs. 2 AktG-RefE. Weiterhin muss auch der die notarielle Niederschrift aufnehmende Notar am Ort der Versammlung anwesend sein, § 130 Abs. 1a AktG-RefE. Für die vorgenannten Personen bleibt es somit bei einer Präsenzversammlung (RefE S. 26).
Abweichend von der Präsenzversammlung gelten bei der virtuelle Hauptversammlung Gegenanträge von Aktionären zu bestimmten Tagesordnungspunkten, die nach § 126 Abs. 1 bis Abs. 3 AktG zugänglich zu machen sind, als im Zeitpunkt der Zugänglichmachung gestellt. Die Gesellschaft ist mit Zugänglichmachung verpflichtet, bereits vor der Versammlung eine Abstimmung über den Antrag zu ermöglichen. Diese Abstimmung läuft dann bis in der virtuellen Versammlung die Abstimmung geschlossen wird. Gegenanträge der Aktionäre sollen dann nicht mehr in der Versammlung gestellt werden können, es sei denn die Gesellschaft hat dies in der Einberufung ausdrücklich gestattet, § 126 Abs. 4 AktG-RefE. Hiermit wird der Abstimmungsvorgang über besonders strittige Tagesordnungspunkte vorverlagert und die Hauptversammlung berechenbarer. Die Rechteausübung und der Ablauf der Hauptversammlung werden entzerrt (RefE S. 15, 29).
Auch passt der Referentenentwurf weitere Vorschriften an die virtuelle Hauptversammlung an. So sind gem. § 129 Abs. 1 S. 3 AktG-RefE die teilnehmenden Aktionäre bzw. ihre Vertreter in ein Verzeichnis aufzunehmen, welches allen Teilnehmern zugänglich zu machen ist und für das die Aktionäre ein Einsichtsrecht haben, vgl. § 129 Abs. 4 AktG-RefE.
Anfechtungsrecht
Der Entwurf sieht ebenfalls Änderungen im Beschlussanfechtungs- bzw. Nichtigkeitsrecht vor. So ist ein Verstoß gegen § 121 Abs. 4b S. 1 AktG-RefE (Anforderungen an die Einberufung), ebenso wie gegen § 130 Abs. 1a AktG-RefE (Niederschrift) ein Nichtigkeitsgrund gem. § 241 Nr. 1 und Nr. 2 AktG-RefE.
Die Anfechtung wegen Verletzung von Rechten aus § 118a RefE-AktG aufgrund technischer Störungen soll in weiten Teilen durch § 243 Abs. 3 AktG-RefE auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit der Gesellschaft beschränkt werden. Damit soll der Gesellschaft das Abhalten von und Beschlussfassen in virtuellen Hauptversammlungen ermöglicht werden, ohne dass diese Beschlüsse unkalkulierbaren Anfechtungsrisiken unterliegen (RefE S. 38 f.).
Aktionäre, die sich in der virtuellen HV „zuschalten“, gelten gem. § 245 S. 2 AktG-RefE als erschienen i.S.d. § 245 S. 1 Nr. 1 AktG und sind damit nach dem Entwurf anfechtungsbefugt.
Zeitliche Geltung
Um unmittelbar ab Inkrafttreten des Gesetzes bereits die Möglichkeit der virtuellen HV zu schaffen, sieht der Referentenentwurf für das Einführungsgesetz zum AktG eine Übergangsregelung vor, wonach der Vorstand mit Zustimmung des Aufsichtsrates (ohne Satzungsermächtigung) beschließen können, eine bis einschließlich 31. August 2023 einberufene Hauptversammlung virtuell i.S.d. § 118a AktG-RefE abzuhalten. Erst danach (also vor allem in der HV-Saison 2024) bedarf es einer Satzungsermächtigung. Dies hat den Vorteil, dass alle Gesellschaften aufgrund der Übergangsregelung im Rahmen einer virtuellen HV im Jahr 2023 eine Satzungsermächtigung für künftige virtuelle HVen schaffen können; eine Präsenzversammlung ist hierfür nicht erforderlich.
Änderungen für andere Rechtsformen
Für die KGaA sind die oben für die AG dargestellten Änderungen ebenfalls anwendbar, soweit sich in den §§ 278 ff. AktG nicht abweichende Regelungen finden, § 278 Abs. 3 AktG.
Die neuen Regelungen für die AG sollen auf den Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit ebenfalls Anwendung finden, vgl. § 191 S. 1 VAG-RefE.
Für Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbH), Genossenschaften, Vereine, Parteien, Stiftungen und Wohnungseigentümergemeinschaften (WEG) sind bisweilen keine vergleichbaren Regelungen vorgesehen.
Fazit
Der Referentenentwurf bedeutet grundsätzlich eine (erfreuliche) Abkehr von der tradierten Präsenz-HV und schlägt Neuerungen für die AG und den VVaG vor und soll – unabhängig von den Umständen der Pandemie – die Möglichkeit virtueller Hauptversammlungen dauerhaft möglich machen. Dazu bedarf es allerdings künftig einer entsprechenden Satzungsermächtigung.
Zu beachten ist, dass derzeit nur ein Referentenentwurf vorliegt. Der zu erwartende Regierungsentwurf und die Beratungen im Bundestag können noch zu Veränderungen und Erweiterungen führen. Wir halten Sie diesbezüglich auf dem Laufenden.
Ebenso spannend wie die gesetzliche Verankerung wird die technische und praktische Umsetzung der neuen virtuellen HV sein, die mitunter weit darüber hinaus gehen muss, was bisher von den Gesellschaften bzw. den HV-Dienstleistern angeboten wird.