Der Deutsche Bundestag hat am 7. Juli 2023 den Gesetzesentwurf der Bundesregierung (BT Drs. 20/6520) in geänderter Fassung (BT Drs. 20/7631) zur eigentlich bereits am 25. Dezember 2022 fälligen Umsetzung der EU-Verbandsklagenrichtlinie (RL (EU) 2020/1828) verabschiedet. Zentraler Baustein des Umsetzungsgesetzes, über welcher noch der Bundesrat zu beraten hat, ist die Einführung des Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetzes (VDuG). Dieses sieht neben der bereits bekannten Musterfeststellungsklage die Einführung einer sogenannten Abhilfeklage als neuartige Form der Verbandsklage vor.
Mit der Abhilfeklage wird eine kollektive Leistungsklage eingeführt, welche die tatsächliche Durchsetzung der Ansprüche von Verbraucherinnen und Verbrauchern sicherstellen soll. Eine individuelle Klage der einzelnen Verbraucherinnen und Verbraucher ist hierzu also nicht erforderlich. Vielmehr wird üblicherweise der erforderliche Gesamtbetrag eingeklagt werden, welcher anschließend von einem gerichtlich bestellten Sachwalter an die Verbraucherinnen und Verbraucher auf Grundlage der festgelegten Bedingungen und Maßstäbe verteilt wird.
Der deutsche Gesetzesentwurf geht über viele Mindestanforderungen der EU-Richtlinie hinaus. Die mit den Neuerungen verbundene erhebliche Ausweitung der kollektiven Rechtsschutzmöglichkeiten für Verbraucherinnen und Verbraucher, aber auch die damit verbundenen Haftungsrisiken für Unternehmen sind Grund genug, sich mit den vorgesehenen Regelungen bereits jetzt überblicksartig vertraut zu machen.
Erweiterter Anwendungsbereich des Gesetzes
Insbesondere der Anwendungsbereich des VDuG soll deutlich weiter sein als von der EU-Verbandsklagenrichtlinie gefordert.
So sollen nicht nur Verbraucherinnen und Verbraucher, sondern auch kleine Unternehmen mit bis zu 10 Beschäftigten und einem Jahresumsatz bzw. einer Jahresbilanz von weniger als 2 Mio. Euro dem Verfahren beitreten können, sofern der Rechtsstreit ihre Ansprüche oder Rechtsverhältnisse „gleichermaßen“ betrifft.
Von großer Bedeutung ist aber vor allem, dass mittels der Abhilfeklage nach dem VDuG nicht nur EU-Verbraucherrechte durchgesetzt können werden sollen. Vielmehr sieht der deutsche Gesetzgeber vor, dass alle bürgerlichen Rechtstreitigkeiten zwischen Verbraucherinnen und Verbrauchern und Unternehmens Gegenstand der Abhilfeklage sein können. Dies bedeutet beispielsweise, dass auch allgemeine deliktische und vertragliche Ansprüche geltend gemacht werden können. So sind Klagen nicht nur im allgemeinen Verbraucher- und Bankrecht, sondern beispielsweise auch im Zusammenhang mit den vielfältigen Haftungsrisiken im Bereich ESG-Compliance denkbar.
Zu beachten ist schließlich, dass die Hürden für Verbraucherinnen und Verbraucher, dem Verfahren beizutreten, besonders niederschwellig ausgestaltet wurden. Zwar hat sich der Gesetzgeber für das Opt-In-Verfahren entschieden. Das bedeutet, dass Verbraucherinnen und Verbraucher aktiv beitreten müssen. Dies kann jedoch in Textform, ohne anwaltliche Vertretung, kostenlos sowie sogar noch bis zu drei Wochen nach Schluss der mündlichen Verhandlung erfolgen. Das vollständige Ausmaß des Kostenrisikos für die verklagten Unternehmen wird also erst zu einem späten Zeitpunkt deutlich und erschwert zudem Vergleichsverhandlungen. Unabhängig von der Anmeldung ist die Abhilfeklage aber bereits zulässig, wenn nachvollziehbar dargelegt wird, dass 50 Verbraucherinnen und Verbraucher betroffen sein können. Die Erhebung der Abhilfeklage führt zur Hemmung der Verjährung, jedoch anders als bei der Unterlassungsklage nach dem UKlaG nur für die tatsächlich angemeldeten Ansprüche.
Schutz vor Missbrauch
Um die Unternehmen trotz des weiten Anwendungsbereichs der Abhilfeklage vor den Risiken missbräuchlicher Klageerhebung zu schützen, sieht das Gesetz verschiedene Regelungen vor.
Zum einen werden besondere Anforderungen an den Kreis klageberechtigter Stellen und die Prozessfinanzierung gestellt. Im Allgemeinen sind nur qualifizierte Verbraucherverbände klageberechtigt, welche in der Liste i.S.d. § 4 UKlG eingetragen sind und nicht mehr als 5% ihrer finanziellen Mittel durch Zuwendungen von Unternehmen beziehen. Zudem wird aber auch die Finanzierung konkreter Abhilfeklagen durch Dritte beschränkt. So ist die Finanzierung durch Wettbewerber des verklagten Unternehmens sowie durch solche Dritte unzulässig, die vom verklagten Unternehmen abhängig sind oder von welchen zu erwarten ist, dass sie das Verfahren zu Lasten der Verbraucherinnen und Verbraucher beeinflussen. Hinzu gekommen ist schließlich noch das Verbot einer Prozessfinanzierung, wenn dem Finanzierer ein wirtschaftlicher Anteil von mehr als 10% versprochen ist.
Zudem hat die unterliegende Partei die Kosten des Verfahrens zu tragen – also auf Klägerseite die Verbraucherverbände. Dadurch sollen diese von einer allzu opportunistischen Klageerhebung abgehalten werden. Allerdings wird der Streitwert von Abhilfeklagen unabhängig von der tatsächlichen wirtschaftlichen Bedeutung der Sache auf einen Betrag von 250.000 Euro gedeckelt, sodass das Kostenrisiko dennoch vergleichsweise überschaubar scheint. Zugleich bleiben vor allem auch die finanziellen Risiken der Verbraucherinnen und Verbraucher gering, sodass diese eingeleiteten Verfahren wohl oftmals beitreten und so eine Häufung von Klagen begünstigen werden.
Aus Sicht der Unternehmen erfreulich dürfte schließlich der Umstand sein, dass der Gesetzesentwurf keine umfassende „discovery“ nach dem Vorbild US-amerikanischer „class actions“ vorsieht. Vielmehr bleibt es – zumindest in Deutschland – bei den eher restriktiven Regelungen der §§ 142-144 ZPO. Lediglich neu ist, dass ein Verstoß gegen die dort normierten Vorlagepflichten mit einem Ordnungsgeld von bis zu 250.000 Euro bewährt ist. Die Verpflichtung zur Vorlage muss aber jedenfalls dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen, sodass betroffene Unternehmen dies stets überprüfen lassen sollten.
Wesentliche Gleichartigkeit der geltend gemachten Ansprüche
Ein weiteres Erfordernis für die Zulässigkeit der Abhilfeklage ist, dass die geltend gemachten Ansprüche im Wesentlichen gleichartig sein müssen. Dies wird aller Voraussicht nach ein zentrales Diskussionsthema und eine Herausforderung für die Rechtspraxis sein.
Nach dem Gesetzesentwurf sollen Ansprüche gleichartig sein, wenn sie auf demselben Sachverhalt oder einer Reihe vergleichbarer Sachverhalte beruhen und für sie die gleichen Tatsachen- und Rechtsfragen entscheidungserheblich sind. Die Ansprüche müssen sich so ähnlich sein, dass das Gericht von einer individuellen Tatsachenfeststellung absehen und lediglich aufgrund einer schablonenhaften Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen entscheiden kann.
Die Anwendung dieser Vorgaben auf die Praxis wird maßgeblich darüber entscheiden, wie groß der Anwendungsbereich der Abhilfeklage letztendlich sein wird.
Urteil und Anspruchsdurchsetzung
Wie bereits angedeutet, soll das Abhilfeklageverfahren gerade keine weitere Individualklage der einzelnen Verbraucherinnen und Verbraucher erfordern, sondern selbst die Anspruchsdurchsetzung sicherstellen. Dazu wird das Gericht im Regelfall zunächst ein Abhilfegrundurteil erlassen, welches die Voraussetzungen sowie die Kriterien zur Bemessung der Anspruchshöhe sowie die zu erbringenden Berechtigungsnachweise festlegt. Können die Parteien in der anschließenden Vergleichsphase keine pragmatische Umsetzungslösung finden, so ergeht stattdessen ein Abhilfeendurteil. Hier kann das verklagte Unternehmen zur Zahlung eines vorläufig geschätzten, kollektiven Gesamtbetrags verpflichtet werden. Die Zahlung hat an einen Sachwalter zu erfolgen, welcher anschließend die jeweiligen Beträge an die berechtigten Verbraucherinnen und Verbraucher verteilt.
Das Umsetzungsverfahren erfolgt auf Kosten des Unternehmens. Dieses kann Einwendungen gegen individuelle Ansprüche der Verbraucherinnen und Verbraucher nur noch geltend machen, sofern sie im kollektiven Abhilfeverfahren nicht hätten vorgebracht werden können. Denkbar sind hier vor allem Fehler in der Berechtigungsprüfung des Sachwalters oder eine zwischenzeitlich erfolgte Anspruchserfüllung.
Internationale Zuständigkeit
Auch grenzüberschreitende Abhilfeklagen von qualifizierten Einrichtungen anderer EU-Mitgliedsstaaten sind möglich. Noch unklar und damit Quelle erheblicher Rechtsunsicherheit ist jedoch, ob die besonderen Zuständigkeiten der Brüssel I-VO auf Verbandsklagen anwendbar sind. Die internationale Zuständigkeit ist nicht eindeutig geregelt, sodass die Gefahr besteht, dass Verbände in dem jeweils für die Verbraucherinnen und Verbraucher günstigsten Land Klage erheben werden („forum shopping“).
Ausblick
Mit Spannung bleibt abzuwarten, ob und in welchem Umfang es nach In-Kraft-Treten des VDuG in Zukunft zu umfangreichen Abhilfeklageverfahren gegen Unternehmen kommt, mit denen die Rechte von Verbraucherinnen und Verbrauchern kollektiv durchgesetzt werden sollen.
Die geringen Hürden für den Verfahrensbeitritt sowie die vorgesehene Anspruchsdurchsetzung ohne die Notwendigkeit eines weiteren Prozesses, dürften dies jedenfalls aus Verbrauchersicht wahrscheinlich machen. Auf die betroffenen Unternehmen kämen in der Folge durch die groß angelegten, öffentlich gemachten Verfahren nicht nur hohe finanzielle Risiken, sondern auch nicht unerhebliche Reputationsrisiken zu.
Allein dies dürfte Grund genug sein, sich möglichst bald mit den prozessualen Neuregelungen vertraut zu machen, sobald diese final verabschiedet sind. Bis dahin obliegt es den Unternehmen, bereits jetzt für eine umfassende Compliance zu sorgen und so schon im Grunde keine Angriffsfläche für mögliche Verbandsklagen zu bieten.