EuGH: Urlaubsansprüche verjähren nicht mehr ohne weiteres

München, 29.09.2022

UrlaubBereits mit seinem Urteil vom 6. November 2018 (C‑684/16) hatte der EuGH entschieden, dass der Anspruch eines Mitarbeiters auf seinen gesetzlichen Jahresurlaub nur dann verfällt, wenn der Arbeitgeber ihn zuvor auf den drohenden Verfall hingewiesen hat; dementsprechend sei die Regelung des § 7 Abs. 3 BUrlG unionsrechtskonform auszulegen. Nun hat der Gerichtshof nachgelegt:

In einem sog. Vorabentscheidungsverfahren (Urteil v. 22. September 2022; AZ: C-120/21) bestimmte der EuGH, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, den ein Arbeitnehmer für einen Bezugszeitraum erworben hat, auch nicht (nach Ablauf einer Frist von drei Jahren) verjährt, wenn der Arbeitgeber zuvor seine Hinweisobliegenheiten nicht erfüllt hat (und der Anspruch daher schon nicht verfallen konnte).

In zwei weiteren Fällen und Vorabentscheidungsersuchen aus Deutschland, die der EuGH zuvor verbunden hatte(AZ: C-518/20 und C-727/20), haben die Luxemburger Richter am gleichen Tage zudem entschieden, dass die gesetzlichen Urlaubsansprüche bei Langzeiterkrankten und Erwerbsunfähigen nicht in sämtlichen Konstellationen 15 Monate nach dem Ende des betreffenden Urlaubsjahres verfallen, sondern es auch hier erforderlich sein kann, dass der Arbeitgeber den Mitarbeiter erst in die Lage versetzt, den Urlaubsanspruch auch tatsächlich wahrzunehmen, d.h. zuvor auf den drohenden Urlaubsverfall hinweist.

Entscheidungen des EuGH

In beiden Entscheidungen hat der EuGH die Rechte der Arbeitnehmer weiter gestärkt und seine bisherige Rechtsprechung aufrechterhalten und weiter detailliert, wonach die Arbeitnehmer ihre gesetzlichen Urlaubsansprüche nur unter bestimmten Voraussetzungen verlieren können.  

  1. In der Rechtssache C-120/21 ging es um einen Mitarbeiter, der bei der Arbeitgeberin von November 1996 bis Juli 2017 beschäftigt war. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses verlangte er von der Arbeitgeberin für die von ihm zwischen 2013 und 2017 nicht genommenen 101 Tage bezahlten Jahresurlaub einen finanziellen Ausgleich. Nach der Ablehnung der Arbeitgeberin wurde ihm erstinstanzlich  eine Abgeltung lediglich für 3 im Jahr 2017 nicht genommene Tage bezahlten Jahresurlaubs gewährt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Gegen diese Entscheidung legte der Mitarbeiter beim LAG Düsseldorf Berufung ein. Das Berufungsgericht entschied, dass der Mitarbeiter für den im Zeitraum von 2013 bis 2016 nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub Anspruch auf Abgeltung von 76 weiteren Tagen habe, weil die Arbeitgeberin nicht dazu beigetragen habe, dass der Mitarbeiter seinen Urlaub für diese Jahre zur gebotenen Zeit habe nehmen können. Gegen diese Entscheidung legte sodann die Arbeitgeberin Revision beim Bundesarbeitsgericht ein. Das BAG schloss sich der Argumentation des Berufungsgerichts an und teilte unter Bezugnahme auf das Urteil vom 6. November 2018 (C‑684/16) die Ansicht, dass die Urlaubsansprüche des Mitarbeiters für die Jahre 2013 bis 2016 nicht nach § 7 Abs. 3 BUrlG erloschen seien, weil die Arbeitgeberin den Mitarbeiter hierfür zuvor dazu hätte auffordern müssen, seinen Urlaub zu nehmen und ihn über das mögliche Erlöschen seines Anspruchs hätte informieren müssen (was hier nicht erfolgt war). Da der Mitarbeiter hier allerdings zusätzlich die Einrede der Verjährung nach § 194 BGB erhoben hatte, mit der Folge, dass die Urlaubsansprüche des Mitarbeiters nach §§ 195, 199 BGB drei Jahre nach dem Schluss des Jahres, in dem sie entstanden sind, verjährt gewesen wären, hätte dies nach Auffassung des BAG dazu geführt, dass die gesetzlichen Verjährungsvorschriften gerade den Arbeitgeber finanziell begünstigen, der zuvor seine Hinweispflichten nicht erfüllt habe. Mit Blick auf diesen möglichen Wertungswiderspruch hat das BAG das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt. In den Entscheidungsgründen wies der EuGH zunächst daraufhin, dass dem Arbeitnehmer als der schwächeren Partei des Arbeitsvertrags die Aufgabe, für die tatsächliche Wahrnehmung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu sorgen, nicht allein obliegen dürfe. Insbesondere soll sich der Arbeitgeber durch die ihm obliegende Möglichkeit der einredeweisen Geltendmachung der Anspruchsverjährung nicht seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten entziehen können. Anderenfalls würde er noch dafür „belohnt“, dass er es in drei aufeinander folgenden Jahren versäumt habe, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, diesen Anspruch tatsächlich wahrzunehmen. Damit würde man im Ergebnis ein Verhalten billigen, das zu einer „unrechtmäßigen Bereicherung des Arbeitgebers“ führe. Auch würde dies dem eigentlichen, von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verfolgten Zweck, die Gesundheit des Arbeitnehmers zu schützen, zuwiderlaufen. Der Arbeitgeber sei zudem in der Lage, Rechtssicherheit zu erlangen und sich vor späten Anträgen wegen nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs dadurch zu schützen, dass er seinen Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten gegenüber dem Arbeitnehmer nachkomme.

 

  1. In den Rechtssachen C-518/20 und C-727/20 ging es um das bisherige Verständnis der Rechtsprechung, dass die gesetzlichen Urlaubsansprüche von erwerbsunfähigen und langzeiterkrankten Mitarbeitern bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit jedenfalls 15 Monate nach dem Ende des jeweiligen Urlaubsjahres verfallen. In den Vorabentscheidungsersuchen des BAG sollte geklärt werden, ob dies auch dann gilt, wenn der betreffende Arbeitnehmer erst im Verlauf eines Urlaubsjahres ununterbrochen arbeitsunfähig erkrankt und bis dahin zumindest teilweise Urlaub hätte nehmen können - und gleichzeitig der Arbeitgeber seine Hinweisobliegenheiten in Bezug auf den drohenden Urlaubsverfall nicht erfüllt hat. Der EuGH folgte in dieser Frage der Stellungnahme des Generalanwalts und erinnerte zunächst daran, dass mit dem Anspruch auf Jahresurlaub ein doppelter Zweck verfolgt werde. Dem Arbeitnehmer solle ermöglicht werden, sich einerseits von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und andererseits über einen Zeitraum der Entspannung und Freizeit zu verfügen. Dies setze grundsätzlich voraus, dass der Arbeitnehmer im Lauf des Bezugszeitraums auch tatsächlich gearbeitet hat. Zwar würden Arbeitnehmer, die während des Bezugszeitraums krankgeschrieben sind, den arbeitenden Mitarbeitern grundsätzlich gleichgestellt. Etwas anderes gelte aber für Mitarbeiter, die während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähig seien. Denn diese seien sonst in der Lage, unbegrenzt alle während des Zeitraums ihrer Abwesenheit von der Arbeit erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub anzusammeln, was nicht mehr dem Urlaubszweck entspreche (Urteil vom 29. November 2017, King, C‑214/16, Rn. 53 und 54 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). In diesen Fällen könnten einzelstaatliche Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten die Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub dergestalt einschränken, dass sie einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten vorsehen, nach dessen Ablauf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erlischt. Hiervon macht der EuGH in seiner aktuellen Entscheidung vom 22. September 2022 nun eine Rückausnahme: Die vorgenannte Einschränkung des Urlaubsanspruchs sei dann nicht möglich, wenn der Anspruch den Bezugszeitraum betreffe, in dem der Arbeitnehmer noch gearbeitet habe, bevor dieser voll erwerbsgemindert oder arbeitsunfähig geworden sei, und wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht zuvor rechtzeitig in die Lage versetzt habe, diesen Anspruch auch geltend zu machen. Der Gerichtshof entschied, dass auch ein Verfall des Urlaubsanspruchs in dieser speziellen Konstellation nur in Betracht komme, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor über den Urlaubsanspruch und den möglichen –verfall unterrichtet habe.

Rechtlicher Hintergrund

Gesetzlicher Anknüpfungspunkt für die jüngsten Entscheidungen des EuGH waren erneut Art. 7 der EU-Richtlinie 2003/88, wonach die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen zu treffen haben, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen erhält, sowie Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der das arbeitnehmerseitige Recht auf bezahlten Jahresurlaub verankert. Aus diesen Regelungen folgert der Gerichtshof Vorgaben für die nationalen Urlaubsregelungen, die unionskonform ausgelegt bzw. fortgebildet werden müssen. So hat bereits die Entscheidung des EuGH vom 6. November 2018 (C‑684/16) dazu geführt, dass die Regelung des § 7 BUrlG in diesem Sinne unionskonform ausgelegt werden müsse, so dass der Anspruch auf den bezahlten Mindesturlaub nur dann am Ende des Bezugszeitraums oder des Übertragungszeitraums erlischt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor in die Lage versetzt hat, seinen Urlaub wahrzunehmen und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat. Mit seinem Urteil vom 19. Februar 2019 (AZ: 9 AZR 423/16) hat das BAG diese Vorgaben dann näher ausgestaltet und bestimmt, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor konkret aufgefordert haben muss, den Urlaub zu nehmen, und ihn klar und rechtzeitig darauf hingewiesen haben muss, dass der Urlaub anderenfalls mit Ablauf des Urlaubsjahres oder Übertragungszeitraums erlischt. Diese Mitwirkungsobliegenheiten könne der Arbeitgeber regelmäßig zum Beispiel dadurch erfüllen, dass er dem Arbeitnehmer zu Beginn des Kalenderjahres in Textform mitteilt, wie viele Arbeitstage Urlaub ihm im Kalenderjahr zustehen, und ihn dann auffordert, seinen Jahresurlaub so rechtzeitig zu beantragen, dass er innerhalb des laufenden Urlaubsjahres genommen werden kann. Zudem müsse der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über die Konsequenzen belehren, die eintreten, wenn dieser den Urlaub nicht entsprechend der Aufforderung beantragt. Sind diese Hinweisobliegenheiten verletzt worden, verfällt der gesetzliche Urlaubsanspruch nach den jüngsten urlaubsrechtlichen Entscheidungen des EuGH nicht für das Jahr, in dem ein erwerbsgeminderter oder langzeiterkrankter Arbeitnehmer arbeitsunfähig wurde. Er kann dann auch nicht nach Maßgabe der gesetzlichen Regelungen verjähren.

Praxishinweise

In der Konsequenz verlangt der EuGH positive Kenntnis des Arbeitnehmers über die Rechtslage zum Urlaubsverfall, damit auch die Verjährung des nicht in Anspruch genommenen Urlaubs zu laufen beginnt. Dass die gesetzlichen Verjährungsvorschriften gerade Rechtssicherheit und Rechtsfrieden herbeiführen sollen, schien für den EuGH hier von untergeordneter Bedeutung zu sein. Nach deutschem Rechtsverständnis erscheint das befremdlich, zumal es hierzulande für den Verjährungsbeginn unerheblich ist, ob und inwieweit ein Gläubiger die Sachlage rechtlich zutreffend würdigt (vgl. § 199 Abs. 2 Nr. 1 BGB).

Für die Praxis bedeutet dies jedenfalls, dass Arbeitgeber  ggf. prüfen müssen, ob sie in solchen Konstellationen für Fälle aus der Vergangeheit Rückstellungen zu bilden haben. Die Bedeutung der schon seit dem Jahr 2018 bekannten arbeitgeberseitigen Pflicht, die Mitarbeiter „klar und rechtzeitig“ auf den drohenden Verfall von Urlaub hinzuweisen, hat jetzt weiter zugenommen. Wollen Arbeitgeber die Gewissheit, dass nicht in Anspruch genommener Urlaub mit Ablauf des Urlaubsjahres oder Übertragungszeitraums erlischt, müssen sie darauf hinweisen – und entsprechend dokumentieren, dass dieser Hinweis erfolgt ist, z.B. durch Hinterlegung des Hinweises in der Personalakte des betreffenden Mitarbeiters. Soweit Arbeitnehmern über den gesetzlichen Mindesturlaub hinaus vertraglicher Zusatzurlaub gewährt wird, sollte der Verfall dahingehend, sofern bislang noch nicht erfolgt, auch arbeitsvertraglich - abweichend von der Gesetzeslage zum gesetzlichen Mindesturlaub - geregelt werden.

Im Übrigen wird abzuwarten sein, wie das BAG die Vorgaben des EuGH in den betreffenden Verfahren umsetzt und diese möglicherwiese weiter konkretisiert, etwa im Hinblick auf den Umfang und die Reichweite der prozessualen Darlegungs- und Beweislast der Arbeitnehmer bei der Geltendmachung solcher Urlaubsabgeltungsansprüche. 

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