Im Juni 2022 kündigte der Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck u.a. wegen der hohen Tankstellenpreise eine Verschärfung des Wettbewerbsrechts an. Dieser Ankündigung folgte nun am 26. September 2022 die Veröffentlichung eines Referentenentwurfs zur 11. GWB-Novelle durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK). Ziel der Novellierung ist es, das Bundeskartellamt mit effektiven Eingriffsinstrumenten nach Abschluss einer Sektoruntersuchung auszustatten, die Vorteilsabschöpfung zu vereinfachen und die Durchsetzung des Digital Markes Act (DMA) vorzubereiten. Der Referentenentwurf sieht hierfür folgende wesentliche Änderungen vor.
I. Einführung neuer Eingriffsbefugnisse nach Abschluss einer Sektoruntersuchung
Bereits heute kann das Bundeskartellamt eine Untersuchung eines Wirtschaftszweigs durchführen, wenn es vermutet, dass der Wettbewerb auf dem untersuchten Markt eingeschränkt oder verfälscht wird (sog. Sektoruntersuchung). Abgeschlossen wird eine solche Sektoruntersuchung in der Regel mit einem Bericht über die Wettbewerbsverhältnisse auf dem untersuchten Markt. Stellt das Bundeskartellamt eine Störung des Wettbewerbs fest, kann es nur Abhilfemaßnahmen treffen, wenn die Beschränkung auf einem Verstoß gegen kartellrechtliche Vorschriften basiert. Sofern jedoch strukturelle Marktumstände den Wettbewerb beschränken, ohne dass ein Verstoß gegen das Kartellrecht festgestellt werden kann, sind dem Bundeskartellamt bislang die Hände gebunden. Um diesem Umstand zu begegnen soll das Bundeskartellamt nunmehr mit Eingriffsbefugnissen ausgestattet werden, die es unabhängig vom Nachweis eines Kartellrechtsverstoßes bei festgestellten Missständen einsetzen kann. Dabei handelt es sich um eine verstoßunabhängige Marktgestaltungskompetenz des Bundeskartellamts, die ein absolutes Novum im geltenden Kartellrecht wäre.
1. Beschleunigung der Sektoruntersuchung
Die Durchführung einer Sektoruntersuchung war bislang an keine Frist gebunden. Dies führte in der Praxis zu sehr langen Bearbeitungszeiten mit der Folge, dass sich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Abschlussberichts des Bundeskartellamts die Wettbewerbssituation auf den untersuchten Märkten häufig bereits verändert haben konnte. Daher sieht der Referentenentwurf eine Beschleunigung des Verfahrens vor. Eine Sektoruntersuchung soll nunmehr innerhalb von 18 Monaten nach Einleitung der Untersuchung abgeschlossen werden, um zeitnah auf mögliche festgestellte Wettbewerbsprobleme reagieren zu können. Von dieser Frist soll nur in Ausnahmefällen abgewichen werden können. Zudem wird das Bundeskartellamt verpflichtet einen Zwischen- bzw. Abschlussbericht zu veröffentlichen. Bislang war dies zwar die behördliche Praxis, jedoch nicht gesetzlich vorgeschrieben. Außerdem kann das Bundeskartellamt in seinem Bericht eine wettbewerbspolitische Empfehlung gegenüber der Bundesregierung aussprechen.
2. Eingriffbefugnisse des Bundeskartellamts
Kern der Novellierung ist die Einführung weitreichender Eingriffsbefugnisse des Bundeskartellamts, die ihr nach Veröffentlichung eines Abschlussberichts zu einer Sektoruntersuchung zustehen.
Anknüpfungspunkt ist dabei das Kriterium der „erheblichen, andauernden oder wiederholenden Störung des Wettbewerbs auf mindestens einem Markt oder marktübergreifend“. Hierdurch soll klargestellt werden, dass vorübergehende Beschränkungen des Wettbewerbs einen Eingriff nicht rechtfertigen, sondern eine gewisse Intensität einer Marktstörung vorliegen muss, die durch die Marktteilnehmer selbst nicht dauerhaft und in hinreichender Weise ausgeglichen werden kann. Zur Auslegung dieses Merkmals weist der Referentenentwurf zudem nicht abschließende Faktoren aus, die je nach Fallgestaltung isoliert oder kumulativ in der Gesamtschau für die Feststellung einer erheblichen Störung relevant sein können.
Stellt das Bundeskartellamt eine erhebliche Wettbewerbsstörung fest, kann es Abhilfemaßnahmen verhaltensorientierter oder struktureller Art gegenüber einem oder mehrerer Unternehmen anordnen. Dabei haben verhaltensorientierte Maßnahmen Vorrang gegenüber strukturellen Maßnahmen (vgl. § 32 Abs. 2 GWB). Folgende Maßnahmen können unter anderem angeordnet werden:
- Gewährung des Zugangs zu Daten, Schnittstellen, Netzen oder sonstigen Einrichtungen;
- Belieferung anderer Unternehmen, einschließlich der Einräumung von Nutzungsrechten an geistigem Eigentum;
- Gemeinsame Normen und Standards;
- Organisatorische Trennung von Unternehmens- und Geschäftsbereichen.
Als letztes Mittel (ultima ratio) und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, kann das Bundeskartellamt eine eigentumsrechtliche Entflechtung anordnen. Dies soll nur möglich sein, wenn kein anderes Mittel die festgestellte Wettbewerbsstörung beseitigen kann. Diese Befugnis stand dem Bundeskartellamt bislang nicht zu und stellt eine deutliche Verschärfung des Wettbewerbsrechts dar. Im Entflechtungsverfahren sollen der Monopolkommission und den zuständigen Landeskartellbehörden ein Recht zur Stellungnahme eingeräumt werden, nicht hingegen der Europäischen Kommission. Einen fünfjährigen Bestandschutz wiederum genießen Zusammenschlüsse, die bestandkräftig durch das Bundeskartellamt oder der Europäischen Kommission freigegeben wurden.
Unternehmen können ihrerseits Verpflichtungszusagen machen, um die wettbewerblichen Bedenken des Bundeskartellamts auszuräumen. Das Bundeskartellamt kann diese Zusagen – bei Anerkennung ihrer Wirkung – für bindend erklären.
Abhilfemaßnahmen des Bundeskartellamts sollen spätestens 18 Monate nach Veröffentlichung des Abschlussberichts zur Sektoruntersuchung erlassen werden. Sie sollen auch anwendbar auf bereits laufende Sektoruntersuchungen sein, die erst nach Inkrafttreten der Regelung abgeschlossen werden.
3. Erweiterte Fusionskontrolle
Zusätzlich kann das Bundeskartellamt nach Abschluss einer Sektoruntersuchung ein Unternehmen verpflichten, bestimmte Zusammenschlüsse, die unterhalb der Schwellenwerte des § 35 GWB liegen, innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren nach Zustellung der Verfügung beim Bundeskartellamt anzumelden. Diese Befugnis wurde erstmalig mit der 10. GWB-Novelle durch den neuen § 39a GWB eingeführt. Voraussetzung ist bislang, dass das betroffene Unternehmen einen (i) weltweiten Umsatzerlös von EUR 500 Mio. im letzten abgeschlossenen Geschäftsjahr erzielt hat, (ii) objektiv nachvollziehbare Anhaltspunkte dafür bestehen, dass durch künftige Zusammenschlüsse der wirksame Wettbewerb im Inland in den genannten Wirtschaftszweigen erheblich behindert wird und (iii) das betroffene Unternehmen in dem relevanten Wirtschaftszweig einen nationalen Marktanteil von mind. 15 % aufweist. Sofern diese Voraussetzungen vorliegen muss jeder Zusammenschluss angemeldet werden, bei dem das Zielunternehmen im Vorjahr einen Umsatzerlös von mehr als EUR 2 Mio. erzielt hat, der zu mehr als zwei Drittel im Inland erzielt worden ist.
Die jetzige Novellierung sieht eine inhaltliche Verschärfung der bestehenden Regelung vor. Neben den „objektiv nachvollziehbaren Anknüpfungspunkten“, dass durch zukünftige Zusammenschlüsse der Wettbewerb im Inland beeinträchtigt wird, muss das erwerbende Unternehmen im letzten abgeschlossenen Geschäftsjahr mindestens einen Inlandsumsatz von EUR 50 Mio. und das zu erwerbende Unternehmen einen Gesamtumsatz von EUR 500.000 erzielt haben. Die weiteren Umsatzerfordernisse sollen genauso wie der nationale Marktanteil von mind. 15 % gestrichen werden. Hierdurch sollen drohende Konzentrationstendenzen auf kleineren regionalen Märkten besser kontrolliert werden können. Daher soll auch die Bagatellmarktschwelle des § 36 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 GWB keine Anwendung finden.
Verfügungen sollen spätestens 18 Monate nach Abschluss der Sektoruntersuchung erteilt werden. In diesem Fall sieht die Novellierung zudem eine Rückwirkung für im Zeitpunkt des Inkrafttretens der neuen Regelung bereits abgeschlossene Sektoruntersuchungen vor, wenn die Veröffentlichung des Abschlussberichts nicht mehr als ein Jahr zurückliegt.
II. Vereinfachte Vorteilsabschöpfung
Gem. § 34 GWB ist das Bundeskartellamt befugt bei einem Kartellrechtsverstoß die wirtschaftlichen Gewinne abzuschöpfen. In der Praxis spielt diese Vorschrift bislang keine Rolle, da die rechtlichen Hürden zu hoch sind. Daher soll die Anwendung der Vorschrift vereinfacht werden. Insbesondere soll das Bundeskartellamt nicht mehr nachweisen müssen, dass ein vorsätzlicher oder fahrlässiger Kartellrechtsverstoß vorliegt. Die Abschöpfung soll verschuldensunabhängig greifen. Liegt ein objektiver Verstoß gegen das Kartellverbot vor, wird gesetzlich vermutet, dass der Verstoß einen Vorteil verursacht hat. Die Höhe des Vorteils kann geschätzt werden, jedoch greift auch hier eine gesetzliche Vermutung, dass der wirtschaftliche Vorteil mind. 1% der Umsätze beträgt, die im Inland mit solchen Produkten und Dienstleistungen erzielt wurden, die im Zusammenhang mit dem Kartellrechtsverstoß stehen. Allerdings darf der abzuführende Gewinn nicht 10% des, in der Behördenentscheidung festgestellten und erzielten Gesamtumsatz eines Konzernes übersteigen. Die Vermutung bzgl. der Höhe des Vorteils kann nur widerlegt werden, wenn das Unternehmen nachweist, dass weder die am Verstoß unmittelbar beteiligte juristische Person noch das Unternehmen insgesamt im relevanten Zeitraum einen Gewinn in entsprechender Höher erzielt haben. Die Vorteilabschöpfung kann innerhalb von zehn Jahren nach der Zuwiderhandlung angeordnet werden.
III. Durchsetzung des DMA
Der DMA adressiert bestimmte Verhaltensweisen von Anbietern zentraler Plattformdienste (sog. Gatekeeper), mit dem Ziel die Märkte des digitalen Sektors offen zu halten. Dabei gelten die Regelungen des DMA für designierte Gatekeeper unmittelbar und sind direkt anwendbar. Zur Durchsetzung und Überwachung der Einhaltung der Regelungen ist die Europäische Kommission zuständig; nationale Wettbewerbsbehörden können sie jedoch in einem begrenzten Umfang unterstützen. Gleichzeitig ist der DMA als europäische Verordnung unmittelbar in den Mitgliedstaaten anwendbar und mithin dem Grunde nach der privaten Rechtsdurchsetzung zugänglich.
Die 11. GWB-Novelle soll die rechtliche Grundlage für die nationale Durchsetzung des DMA begründen. Dem Bundeskartellamt wird die Möglichkeit eröffnet Ermittlungen im Hinblick auf Verstöße gegen den DMA zu führen. Zudem wird die private Rechtdurchsetzung erleichtert. Dabei lehnt sich der Referentenentwurf an die Vorschriften zur Erleichterung der privaten Rechtdurchsetzung in Kartellsachen, mit der die Kartellschadensersatzrichtlinie umgesetzt wurde an. Im Einzelfall bedeutet dies insbesondere, dass bestandskräftige Entscheidungen der Europäischen Kommission, die einen Verstoß gegen den DMA feststellen, Bindungswirkung in Schadensersatzprozessen vor deutschen Gerichten entfalten. Zuständig in Bezug auf Streitigkeiten zum DMA sollen die Kartellspruchkörper sein. Damit wird eine Zuständigkeitskonzentration herbeigeführt. Zu guter Letzt wird dem Bundeskartellamt die Möglichkeit eröffnet, sich als amicus curiae in Gerichtsverfahren mit Bezug zum DMA einzubringen.
IV. Zusammenfassende Bewertung
Die geplante Novellierung wird die Eingriffsbefugnisse des Bundeskartellamts deutlich stärken. Insbesondere wird das Bundeskartellamt in die Lage versetzt Marktstrukturen besser zu gestalten. Ähnliche Instrumente werden insbesondere auch in Großbritannien, Griechenland, Mexiko, Südafrika oder Island eingesetzt. Der Referentenentwurf stützt sich in seiner Begründung unter anderem auf den erfolgreichen Einsatz ähnlicher Instrumente durch die britische Competition & Markets Authority.
Hinsichtlich der vorgesehenen widerlegbaren gesetzlichen Vermutung, dass bei einem Kartellrechtsverstoß 1 % der Umsätze, die mit den betroffenen Produkte und Dienstleistungen erzielten wurden, als „Kartellgewinn“ abgeschöpft werden können, bleibt abzuwarten, inwieweit Gerichte diese Vermutung bei der Schätzung eines Mindestschadens im Rahmen eines Kartellschadensersatzverfahrens berücksichtigen werden. Jedenfalls liegt der vermutete abzuschöpfende Kartellgewinn deutlich unter den zuletzt von einigen Landgerichten vorgeschlagenen Prozentwerten.
Die ersten Anhörungen zur 11. GWB-Novelle sollen bereits im Oktober stattfinden. Daher ist mit einem zügigen Gesetzgebungsverfahren zu rechnen. Zudem ist die Novellierung nur der erste Aufschlag zur Umsetzung der im Februar 2022 veröffentlichen zehn Punkte Agenda des BMWK. Diese weiteren weitaus umfangreicheren Änderungen werden voraussichtlich Gegenstand einer 12. GWB-Novelle.