Einstimmig hat der Bundestag am 25. März 2020 das „Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht“ (nachfolgend nur: „COVID-19-G“) verabschiedet. Am 27. März 2020 hat das Gesetz auch den Bundesrat passiert. Noch am selben Tag wurde es im Bundesgesetzblatt, Teil I, S. 569 ff., verkündet.
Der Gesetzgeber hat mit dem COVID-19-G – neben den Erleichterungen für einzelne Gesellschaften (siehe hierzu GÖRG – Legal Update zum Gesellschaftsrecht vom 27. März 2020) auch Erleichterungen für die Generalversammlungen (bzw. die Vertreterversammlungen) der Genossenschaften geschaffen. Die mit einer Präsenzversammlung verbundene Anwesenheit einer Vielzahl von Personen birgt in Zeiten von COVID-19 für die Versammlungsteilnehmer nicht unerhebliche Gefahren. Genossenschaften sollen daher für die Abhaltung von General- oder Vertreterversammlungen in vereinfachter Weise auf elektronische Kommunikationsmittel zurückgreifen können, wobei zugleich die Möglichkeit der Anfechtung von Beschlüssen wegen technischer Störungen eingeschränkt wird. In diesem Zusammenhang wird auch die Einberufung erleichtert. Die entsprechenden maßgeblichen Regelungen enthält Art. 2 § 3 COVID-19-G.
I. Zeitliche Geltung
Die maßgeblichen Regelungen in Art. 2 § 3 COVID-19-G sind am 28. März 2020 in Kraft getreten (vgl. Art. Art. 6 Abs. 2 COVID-19-G). Sie gelten zunächst nur für General- bzw. Vertreterversammlungen, die im Jahr 2020 stattfinden. Das folgt ausdrücklich aus Art. 2 § 7 Abs. 3 COVID-19-G, der die Anwendbarkeit der Vorschriften auf alle General- und Vertreterversammlungen im Jahr 2020 beschränkt.
Möglich bleibt natürlich, dass der Gesetzgeber die Wirkungen des COVID-19-G verlängert, sollte die COVID-19-Pandemie noch länger anhalten und eine Verlängerung wegen der fortbestehenden Auswirkungen der Pandemie geboten erscheinen (vgl. § 8 COVID-19-G).
II. Art. 2 § 3 Abs. 1 S. 1 COVID-19-G
Für die konkreten Erleichterungen bei der Abhaltung einer General- oder Vertreterversammlung wiederum ist entscheidend die Regelung in Art. 2 § 3 Abs. 1 S. 1
COVID-19-G. Danach dürfen Beschlüsse der Mitglieder auch dann schriftlich oder elektronisch gefasst werden, wenn dies in der Satzung nicht ausdrücklich zugelassen ist. Im Übrigen verbleibt es bei der Regelung in § 43 Abs. 7 S. 1 GenG.
Nach seinem Wortlaut gestattet das COVID-19-G erst einmal nur, dass die nach § 43 Abs. 7 S. 1 GenG zulässigen Maßnahmen auch ohne Zulassung in der Satzung vorgenommen werden dürfen. Wörtlich erfasst von Art. 2 § 3 Abs. 1 S. 1 COVID-19-G und von § 43 Abs. 7 S. 1 GenG sind nur die schriftliche oder elektronische Fassung von Beschlüssen der General- oder der Vertreterversammlung.
III. Möglichkeit der Online-Generalversammlung
In der Gesetzesbegründung geht der Gesetzgeber allerdings noch weiter und teilt mit, dass auch die Durchführung von Versammlungen ohne physische Präsenz, d. h. sog. virtuelle General- oder Vertreterversammlungen zulässig sein sollen (siehe BT-Drs. 19/18110, S. 5, 19 und 28).
1. Wortlaut von Art. 2 § 3 Abs. 1 S. 1 COVID-19-G
Dem Wortlaut von Art. 2 § 3 Abs. 1 S. 1 COVID-19-G lässt sich das so nicht entnehmen.
Warum also ist der Gesetzgeber in seiner Begründung von der Zulässigkeit einer solchen virtuellen Versammlung ausgegangen und wie können Genossenschaften sicherstellen, dass sie auf rechtlich belastbarer Grundlage zulässigerweise eine Online-General- oder Vertreterversammlung abhalten dürfen?
2. Gesetzesbegründung
Die Einschätzung des Gesetzgebers wird erhellt bei einem Blick auf die Formulierung in BT-Drs. 19/18110, S. 28. Dort heißt es: „Die Regelung ermöglicht die Durchführung einer „virtuellen“ General- oder Vertreterversammlung vorübergehend auch dann, wenn die Satzung diesbezüglich keine entsprechenden Regelungen enthält.“
Entscheidend für das Verständnis sind die beiden Worte „auch dann“. Daraus ergibt sich, dass der Gesetzgeber nicht erst mit Art. 2 § 3 Abs. 1 S. 1 COVID-19-G die Möglichkeit der virtuellen General- oder Vertreterversammlung schaffen wollte, sondern offenbar davon ausging, dass dies – auf Grundlage von § 43 Abs. 7 S. 1 GenG – auch zuvor bereits möglich war – eben nur mit der – gemäß Art. 2 § 3 Abs. 1 S. 1 COVID-19-G nun für 2020 aufgehobenen – Einschränkung, dass die Satzung dies zulassen müsse.
3. Zulässigkeit nach § 43 Abs. 7 S. 1 GenG
Ob für 2020 eine virtuelle General- oder Vertreterversammlung überhaupt grundsätzlich möglich wäre, lässt sich demnach nicht mit dem COVID-19-G beantworten, sondern bestimmt sich allein nach § 43 Abs. 7 GenG. Denn nur wenn § 43 Abs. 7 S. 1 GenG es der Satzung erlaubt, eine virtuelle General- oder Vertreterversammlung vorzusehen, könnte auch Art. 2 § 3 Abs. 1 S. 1 COVID-19-G eine solche Möglichkeit ohne entsprechende Satzungsbestimmungen zulassen.
Es ist allerdings umstritten, ob aus § 43 Abs. 7 GenG der Schluss gezogen werden kann, eine rein virtuelle Versammlung über das Internet oder ein Intranet sei möglich. Teilweise wird das abgelehnt (Henssler/Strohn-GesR/Geibel, § 43 Rn. 6; Pöhlmann/Fandrich/Bloehs-GenG/Fandrich, § 43 Rn. 60); teilweise wird es aber bejaht, dies gestützt auf den gesetzgeberischen Willen (siehe Bauer-GenHdb/Bauer, § 43 Rn. 209, m. w. N.).
Tatsächlich deckt sich die befürwortende Auffassung – jedenfalls grundsätzlich – mit der Einschätzung des historischen Gesetzgebers, als dieser § 43 Abs. 7 S. 1 GenG eingeführt hat (siehe BT-Drs. 16/1025, S. 29, li. Sp.). Damals hat der Gesetzgeber zur Einfügung der Norm ausgeführt, dass auch die Durchführung einer virtuellen Generalversammlung (oder eben Vertreterversammlung) per Internet denkbar sei, solange nur sichergestellt sei, dass die Rechte aller Mitglieder gewahrt blieben und die Ordnungsmäßigkeit der Stimmabgabe gewährleistet sei; der Gesetzgeber hielt das damals aber nur in seltenen Ausnahmefällen für möglich (siehe BT-Drs. 16/1025, S. 87, li. Sp.). Auch sonst wird, soweit die virtuelle Versammlung für grundsätzlich zulässig erachtet wird, eingeschränkt, dass diese Form der General- oder Vertreterversammlung nur für einen überschaubaren Teilnehmerkreis praktikabel sei, weil alle Mitglieder der Genossenschaft über entsprechende technische Zugangsmöglichkeiten verfügen müssten (Bauer-GenHdb/Bauer, § 43 Rn. 210).
Klare Rechtsprechung gibt es zu dieser Frage nicht. Soweit es die grundsätzliche Zulässigkeit der virtuellen Versammlung betrifft, ist allerdings auf eine Entscheidung des OLG Hamm zu verweisen, in der das Gericht die Vorschrift des § 43 Abs. 7 S. 1 GenG als Argument für die Zulässigkeit einer virtuellen Mitgliederversammlung im Verein heranzieht (siehe OLG Hamm, Beschluss vom 27.09.2011, I-27 W 106/11, juris, Tz. 12).
Nach alledem erscheint es zumindest vertretbar, wenngleich nicht rechtsicher, die Zulässigkeit einer virtuellen General- oder Vertreterversammlung auf Grundlage von § 43 Abs. 7 S. 1 GenG anzuerkennen.
4. Art. 2 § 1 Abs. 2 COVID-19-G analog
Für General- oder Vertreterversammlungen, die auf Grundlage des COVID-19-G durchgeführt werden, dürfte es darauf aber nicht ankommen. Denn selbst wenn unterstellt wird, eine virtuelle General- oder Vertreterversammlung sei von der Vorschrift des § 43 Abs. 7 S. 1 GenG schon grundsätzlich nicht gedeckt, dürften jedenfalls die Regelungen zur Aktiengesellschaft, aus denen sich für das Jahr 2020 die Zulässigkeit einer rein virtuellen Hauptversammlung ergibt, entsprechend für die Genossenschaft angewendet werden können. Konkret betrifft das Art. 2 § 1 Abs. 2 COVID-19-G, der eine virtuelle Hauptversammlung unter den dort geregelten Voraussetzungen ausdrücklich erlaubt (siehe hierzu GÖRG – Legal Update zum Gesellschaftsrecht vom 27. März 2020).
Erforderlich wäre eine planwidrige Regelungslücke. Diese dürfte sich bejahen lassen. Denn der gesetzgeberische Wille bei der Schaffung des COVID-19-G ging – wie ausgeführt – auch für die Genossenschaft dahin, eine virtuelle General- bzw. Vertreterversammlung auch ohne entsprechende Satzungsregelungen zuzulassen. Ausdrücklich hat er das zwar – anders als für die Aktiengesellschaft – nicht geregelt. Das lässt sich aber nicht als Argument anführen, der Gesetzgeber habe eine solche Möglichkeit für die Genossenschaft nicht vorsehen wollen. Abgesehen davon, dass der Gleichlauf bei Aktiengesellschaften und u. a. Genossenschaften ausdrücklicher Wille des Gesetzgebers war, war die Prämisse des Gesetzgebers, dass eine virtuelle Vertreterversammlung bereits auf Grundlage von § 43 Abs. 7 S. 1 GenG zulässig ist. Deshalb hat er es offenbar für ausreichend erachtet, lediglich den Satzungsvorbehalt in § 43 Abs. 7 S. 1 GenG für 2020 zu suspendieren. Eine vergleichbare Regelung wie in Art. 2 § 1 Abs. 2 COVID-19-G hielt der Gesetzgeber für die Genossenschaft demzufolge offenbar für entbehrlich. Sollte die Annahme des Gesetzgebers rechtsirrig sein und § 43 Abs. 7 S. 1 GenG in seiner bisherigen Form eine rein virtuelle Versammlung nicht zulassen, dürfte die dadurch bestehende Regelungslücke planwidrig sein.
Wenn der Gesetzgeber dies beachtet bzw. gewusst hätte, ist anzunehmen, dass er im Rahmen des COVID-19-G auch für die Genossenschaft eine Regelung geschaffen hätte, die ausdrücklich eine virtuelle Versammlung zulässt. Diese hätte sich an Art. 2 § 1 Abs. 2 COVID-19-G orientiert. Zum einen schwebte dem Gesetzgeber beim COVID-19-G ein entsprechender Gleichlauf mit der Aktiengesellschaft vor. Zum anderen ist die Lage vergleichbar. Schließlich hat sich der Gesetzgeber auch sonst im Rahmen der maßgeblichen Vorschrift, nämlich § 43 Abs. 7 GenG am Aktienrecht orientiert (vgl. § 118 Abs. 2 bis 4 AktG; siehe BT-Drs. 16/1025, S. 87, li. Sp.).
4. Alternativ: Präsenzveranstaltung
Sollte eine Genossenschaft die bestehenden Unsicherheiten scheuen, wäre diese jedenfalls nicht gezwungen, eine virtuelle General- oder Vertreterversammlung abzuhalten. Sie könnte auch abwarten, bis die Ausbreitung der Infektionen abgeklungen ist und die Beschränkungen der Versammlungsmöglichkeiten aufgehoben wurden. Davon geht auch der Gesetzgeber aus (siehe BT-Drs. 19/18110, S. 28).
Unschädlich soll in diesem Zusammenhang sein, wenn die Genossenschaft deshalb die in § 48 Abs. 1 S. 3 GenG geregelte Sechsmonatsfrist versäumt. Hierbei geht der Gesetzgeber davon aus, dass (i) die Versäumung der Frist keine Sanktionen zur Folge hat; (ii) die Fristeinhaltung nicht durch ein Zwangsgeld nach § 160 GenG erzwungen werden kann; (iii) mangels Verschulden des Vorstandes dies im Rahmen der genossenschaftlichen Pflichtprüfung nicht dazu führen kann, dass die Ordnungsmäßigkeit der Geschäftsführung in Zweifel gezogen werden könnte (BT-Drs. 19/18110, S. 28). Aus diesen Gründen hat der Gesetzgeber anders als bei § 175 Abs. 1 S. 2 AktG davon abgesehen, die Frist des § 48 Abs. 1 S. 3 GenG zu verlängern (siehe BT-Drs. 19/18110, S. 28).
5. Sitzungen von Vorstand und Aufsichtsrat
Sitzungen von Vorstand oder Aufsichtsrat, aber auch gemeinsame Sitzungen können schließlich ohne Grund-lage in der Satzung oder in der Geschäftsordnung im Umlaufverfahren oder als Telefon- oder Videokonferenz durchgeführt werden. Das ist ausdrücklich in Art. 2 § 3 Abs. 6 COVID-19-G geregelt, gilt aber ebenfalls erst einmal nur für Sitzungen, die im Jahr 2020 stattfinden (siehe Art. 2 § 7 Abs. 3 COVID-19-G).
Etwa entgegenstehende Satzungsregelungen oder Rege-lungen in der jeweiligen Geschäftsordnung sollen durch die gesetzliche Regelung während ihres Geltungszeitraums suspendiert sein (so BT-Drs. 19/18110, S. 29).
IV. Feststellung des Jahresabschlusses
Für den Fall, dass eine Genossenschaft nicht in der Lage ist, eine virtuelle General- oder Vertreterversammlung durchzuführen, eine Präsenzveranstaltung wegen bestehender Versammlungsbeschränkungen aber ebenfalls nicht durchführen kann, sieht das COVID-19-G zu dem eine Erleichterung bei der Feststellung des Jahresabschlusses vor.
Gemäß § 48 Abs. 1 S. 1 GenG ist an sich die General- bzw. die Vertreterversammlung für die Feststellung zuständig. Art. 2 § 3 Abs. 3 COVID-19-G lässt ausnahmsweise auch eine Feststellung durch den Aufsichtsrat zu, beschränkt aber auf Jahresabschlussfeststellungen im Jahr 2020 (siehe Art. 2 § 7 Abs. 3 COVID-19-G).
Ziel ist es, nachteilige Auswirkungen zu vermeiden, die dadurch entstehen, dass eine Genossenschaft weder eine physische noch eine virtuelle General- oder Vertreterversammlung durchführen kann; zu beachten sind aber in jedem Fall die Vorschriften in § 48 Abs. 2 und 3 (vgl. BT-Drs. 19/18110, S. 29).
V. Erleichterungen bei der Einberufung
Erleichterungen bei der Einberufung sieht Art. 2 § 3 Abs. 2 COVID-19-G vor: Danach kann die Einberufung abweichend von § 46 Abs. 1 S. 1 GenG auf der Internetseite der Genossenschaft oder durch unmittelbare Benachrichtigung in Textform, d. h. auch per E-Mail, erfolgen.
Eine Fristverkürzung sieht das COVID-19-G nicht vor. Es bleibt mithin bei der Frist von mindestens zwei Wochen (siehe § 46 Abs. 1 S. 1 GenG sowie etwa einschlägige Regelungen in der betreffenden Satzung). Da die Frist ohnehin auch nur zwei Wochen betragen kann, erübrigt sich insofern eine analoge Anwendung von Art. 2 § 1 Abs. 3 S. 1 COVID-19-G, der eine Verkürzung der aktienrechtlichen Einberufungsfrist auf drei Wochen vorsieht.
VI. Einschränkungen des Anfechtungsrechtes
Schließlich schränkt das COVID-19-G die Möglichkeiten der Anfechtung von Beschlüssen der General- oder der Vertreterversammlung beim Vorliegen technischer Fehler ein. Art. 2 § 3 Abs. 1 S. 4 COVID-19-G schließt die Anfechtung eines Beschlusses aus, soweit diese auf Verletzungen des Gesetzes oder der Mitgliederrechte gestützt werden, die auf technische Störungen im Zusammenhang mit einer schriftlichen oder elektronischen Beschlussfassung zurückzuführen sind. Eine Rückausnahme gilt nur, wenn der Genossenschaft Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann.
Durch die Beschränkung der Anfechtungsmöglichkeit bei technischen Störungen soll verhindert werden, dass die Genossenschaften allein aufgrund von technischen Unsicherheiten die Erleichterungen nicht in Anspruch nehmen (siehe BT-Drs. 19/18110, S. 28).